Gendersensibles Unterrichten in gesellschaftswissenschaftlich orientierten Fächern am Beispiel Geographie

A. Jahreiß und C. Günther

1. Interessen an Geographie: gendersensibel statt geschlechtsdifferent

Es gibt eine lange Tradition geographiedidaktischer Interessenforschung (vgl. Hemmer & Hemmer 2010 a). Geschlechtsdifferenzierte Unterschiede bei den Vorlieben für Themen, Regionen, Medienarbeit und Kontextsituationen im Geographieunterricht sind theoriegleitet empirisch gut erforscht und haben sich über einen beachtlichen Zeitraum größtenteils als konstant erwiesen (vgl. Hemmer & Hemmer 2010 b).
Hierzu zeigen die Tabellen 1 bis 4 jeweils im Detail die signifikanten Unterschiede zwischen den Präferenzen der Jungen und Mädchen. Es ist erkennbar, dass Mädchen sich beispielsweise stärker für sozio-kulturelle Themenfelder des Bereichs „Menschen und Völker“, allgemein mehr für Regionen und bei den Medien eher für das Arbeiten mit Bildern oder Texten interessieren. Jungen dagegen bevorzugen zum Beispiel Themen der „Stadt- und Wirtschaftsgeographie“, die Arbeit mit Computern, Filmen, Karten/Atlanten oder Statistiken sowie wissenschaftsorientierte Methoden. Allerdings basieren diese Ergebnisse auf Mittelwerten, so dass die Streuung innerhalb der Probandengruppe insgesamt, aber auch innerhalb der Gruppe der Jungen bzw. der Mädchen nicht dargestellt wird.

Die Untersuchungen postulieren deshalb nicht das geschlechtsdifferenzierte Unterrichten, zumal Mädchen und Jungen generell Geographie gleichermaßen interessant finden. Vielmehr sollten die Erkenntnisse als Aufforderung dienen, im Sinne des gendersensiblen Unterrichtens stärker an individuellen Interessen der Schülerinnen und Schüler anzuknüpfen: Über stimmig kombinierte Wahlangebote und verschiedene Kontextsituationen können neue Interessen geweckt werden. Über integrierte Reflexionsphasen lassen sich persönliche Interessenschwerpunkte modifizieren oder erweitern.

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2. Didaktisch-methodische Überlegungen zur Unterrichtsgestaltung

Nach Ergebnissen der jüngsten geographiedidaktischen Interessenforschung (vgl. Hemmer & Hemmer 2010 c und d) spielt bei der Unterrichtsgestaltung die Einbindung von Themen, Regionen und Medien in Kontextsituationen eine zentrale Rolle. Empirisch belegbar ist, dass individuelle und alltagsbezogene Kontexte zur Interessensbildung beitragen und damit zu einem Lernfortschritt führen.

Für den gesellschaftswissenschaftlichen Bereich des Schulfaches Geographie bedeutsam sind hierbei nicht nur individuelle, gesellschaftlich-kulturelle sowie sozio-ökonomische Bezüge mit ihren Wechselwirkungen in Raum und Zeit, sondern auch spezifische Forschungsansätze. Beispielsweise kann das Thema Tourismus in unterschiedliche Kontexte gestellt werden: Individuell sind Fragestellungen nach persönlichen Reisezielen bzw. die Wahrnehmung der Gäste am eigenen Wohnort relevant. Unter gesellschaftlich-kulturellen Aspekten rücken Fragen, zum Beispiel wie Nutzungskonflikte verschiedener Interessensgruppen gesellschaftlich bzw. politisch geregelt werden können, in den Vordergrund. Aus sozio-ökonomischer Sicht stehen Überlegungen zur Bedeutung des Tourismus für die Wirtschaftskraft und die Attraktivität einer Region im Fokus. Raumrelevante Wechselwirkungen untersuchen den Zusammenhang von Tourismus und Umwelt. Darüber hinaus bieten Tourismusthemen die Möglichkeit, sie vergleichend in unterschiedlichen Regionen zu beleuchten und Rückbezüge auf den Heimatraum herzustellen, auch im zeitlichen Wandel. Die Aufbereitung lässt sich mit verschiedenen Medien und mit unterschiedlichen Erhebungs- oder Forschungsmethoden weiter variieren.

Dem Anspruch gendersensiblen Lehrens und Lernens folgend, eröffnen sich gerade durch ein derartiges, sehr breites und facettenreiches Kombinationsspektrum große Chancen, den unterschiedlichen Interessen von Schülerinnen und Schülern gerecht zu werden. Zunächst als uninteressant eingestufte Themen oder Regionen lassen sich auf diese Weise für Jungen und Mädchen gleichermaßen attraktiv methodisch-didaktisch aufbereiten und fordern auf, sich auszuprobieren.

Für die Unterrichtsgestaltung bedeutet dies, solche intensiv schülerorientierte Phasen zu kreiren und dazu Methoden zu finden, die den Schülerinnen und Schülern mehrere, reizvolle Angebote zur inhaltlichen Auseinandersetzung unterbreiten. Auf der Makroebene sind das unterrichtliche Großformen wie zum Beispiel Arbeitsexkursionen oder Projekte mit einer Auswahl unterschiedlicher Fragestellungen und Freiräumen bei den Erhebungsmethoden, der Datensammlung, der medialen Aufbereitung und Präsentation. Auf der Mesoebene können dies offenen Lehr-Lern-Arrangements wie Workshops oder Lerntheken sein. Auf der Mikroebene sind spezielle Methoden des Kommunizierens (z.B. Pro-und-Contra-Debatten, vgl. Schleicher 2013), des Beurteilens und Bewertens (z.B. Wertequadrat, vgl. Vankan 2013) und des Reflektierens (z.B. Philosophieren mit Geographie, vgl. Schuler 2014) prädestiniert.

 

Leitlinie für die Entwicklung derartig gestalteter Lehr-Lern-Arrangements muss grundsätzlich die Kompetenzorientierung sein. Neben den geographischen Kompetenzen (Fachwissen, Methoden, räumliche Orientierung, Kommunikation, Beurteilung- und Bewertung, raumbezogenes Handeln, vgl. DGfG 2012) umfassen diese unter der Prämisse gendersensiblen Unterrichtens zusätzlich vor allem besonders Kompetenzen im Hinblick auf die individuelle Genderbiographie und im Hinblick auf gesellschaftliche Rollenvorstellungen. Für die persönliche Genderbiographie ist es wichtig, zum Teil über einen Perspektivenwechsel, sich der eigenen Geschlechterrolle bewusst zu werden und über Veränderungsmöglichkeiten bzw. Interessensverlagerungen nachzudenken.

Im Hinblick auf gesellschaftliche Rollenvorstellungen sind Kenntnisse über unterschiedliche Rahmenbedingungen und Voraussetzungen der Lebenswelten bzw. -wirklichkeiten notwendig, in denen Männer und Frauen lebten und leben. Dazu gehört ebenso das Wissen über die komplexen Strukturen von Geschlechterverhältnissen in Gesellschaft, Politik, Verwaltung und Organisationen, um bei räumlichen Gestaltungsprozessen der Akteure die Bedeutung von Geschlechterrollen im soziokulturellen Umfeld wahrnehmen und reflektieren zu können. Durch das Zusammenspiel der fachlichen Kompetenzen mit den beiden oben genannten Bereichen der Genderkompetenz wird Handlungskompetenz gefördert. Sie steuert das eigene, raumbezogene und soziale Agieren.

Zusammenfassend visualisiert die Abbildung 1  diese ersten Überlegungen zu einem didaktisch-methodischen Konzept gendersensiblen Lehrens und Lernens im Geographieunterricht. Anregungen zur unterrichtlichen Umsetzung finden sich in den Artikeln zur Raumwahrnehmung „Ich packe in meine Kiste und nehme mit …“   (siehe unter „Unterrichtsbeispiele/GW-Bereich/HSU“) und zur räumlichen Orientierung „Reise mit dem Maßstab durch die Berufswelt!“ (siehe unter „Unterrichtsbeispiele/MINT/Mathematik, GS“).

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3. Bedeutung genderorientierter Reflexionsphasen

Reflexionsprozesse der Schülerinnen und Schüler zu begleiten, ist eine wesentliche Aufgabe des gendersensiblen Geographieunterrichts. Während sich für Eigenreflexionen kriteriengestützte Selbstbeobachtungsbögen, auch in Form von Portfolios oder Tagebüchern, anbieten, gelingt die Reflexion von gesellschaftlichen Rollensituationen eher mit Hilfe von Diskussionen bzw. durch den Austausch in der Gruppe. Unterschiedliche Interessen, Sichtweisen und Rollenvorstellungen werden thematisiert und treffen aufeinander. Sie bilden die Basis für Rückbezüge auf die eigene Person und für die gemeinsame Entwicklung von Gestaltungs- bzw. Veränderungsmöglichkeiten im gesellschaftlichen Kontext. Von den Lehrkräften sind ausreichend Zeit und Raum für derartige Reflexionsphasen einzuplanen.

4. Geographie: Nahtstelle zu naturwissenschaftlichen-technischen Fächern

Das Fach Geographie hat neben seiner gesellschaftswissenschaftlichen Dimension auch eine bedeutsame naturwissenschaftlich-technische Komponente. Die geographiedidaktische Interessenforschung (vgl. Hemmer & Hemmer 2010 b) belegt, dass Jungen in diesem Bereich eine signifikant ausgebildete Schwerpunktsetzung haben. Gerade für die gendersensible Unterrichtsgestaltung in diesem Fach ist es ein besonderer Reiz und gleichzeitig eine Herausforderung, derartige Themenbereiche, technische Medien und Kontexte beim Kombinieren und Gestalten von Lernangeboten ebenfalls einzubinden und so geschlechtsunabhängig neue Präferenzen bei Schülerinnen und Schülern zu wecken und zu fördern.

Literatur

  • DGfG (Deutsche Gesellschaft für Geographie) (Hrsg., 2012): Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren Schulabschluss – mit Aufgabenbeispielen. Berlin.
  • Hemmer Ingrid & Michael Hemmer (Hrsg., 2010 a): Schülerinteressen an Themen, Regionen und Arbeitsweisen des Geographieunterrichts. Ergebnisse der empirischen Forschung und deren Konsequenzen für die Unterrichtspraxis. (= Geographiedidaktische Forschungen 46). Weingarten.
  • Hemmer Ingrid & Michael Hemmer (2010 b): Interesse von Schülerinnen und Schülern an einzelnen Themen, Regionen und Arbeitsweisen des Geographieunterrichts. Ein Vergleich zweier empirischer Studien aus den Jahren 1995 und 2005. In: Hemmer Ingrid & Michael Hemmer (Hrsg., 2010): Schülerinteressen an Themen, Regionen und Arbeitsweisen des Geographieunterrichts. Ergebnisse der empirischen Forschung und deren Konsequenzen für die Unterrichtspraxis. (= Geographiedidaktische Forschungen 46). Weingarten, S. 65-145.
  • Hemmer Ingrid & Michael Hemmer (2010 c): Interesse von Schülerinnen und Schülern an geowissenschaftlichen Themen und Arbeitsweisen. Zur Bedeutung der Kontexte. In: Hemmer Ingrid & Michael Hemmer (Hrsg., 2010): Schülerinteressen an Themen, Regionen und Arbeitsweisen des Geographieunterrichts. Ergebnisse der empirischen Forschung und deren Konsequenzen für die Unterrichtspraxis. (= Geographiedidaktische Forschungen 46). Weingarten, S. 223-235.
  • Hemmer Ingrid & Michael Hemmer (2010 d): Wie kann man Schülerinteressen berücksichtigen? Empfehlungen für die Lehrplanarbeit und den Unterrichtsalltag. In: Hemmer Ingrid & Michael Hemmer (Hrsg., 2010): Schülerinteressen an Themen, Regionen und Arbeitsweisen des Geographieunterrichts. Ergebnisse der empirischen Forschung und deren Konsequenzen für die Unterrichtspraxis. (= Geographiedidaktische Forschungen 46). Weingarten, S. 273-281.
  • Schleicher, Yvonne (Mod., 2013): Diercke. Pro und Contra als Unterrichtsmethode. Braunschweig.
  • Schuler, Stephan (Hrsg., 2014): Diercke. Methoden 2. Kapitel 9: Philosophieren mit Geographie. Braunschweig, S. 187-206.
  • Vankan, Leon (Hrsg., 2013): Diercke. Methoden 1. Kapitel 10: Das Wertequadrat. Braunschweig, S. 139-157.

Internet-Links