S. Seiler
Was lässt sich aus der Tatsache lernen, dass es Unterschiede in den Ausprägungen und Häufigkeiten Psychischer Störungen bei Jungen und Mädchen gibt? Weisen diese Unterschiede auf biologische Besonderheiten hin, oder gehen sie auf Sozialisationsbedingen zurück? Festzuhalten ist, dass Jungen in dieser Hinsicht zunächst als das „schwache“ Geschlecht angesehen werden müssen. Zu beobachten ist aber auch, dass sich die Unterschiede mit der Pubertät angleichen und dass sie sich schließlich im Erwachsenenalter ins Gegenteil verkehren und Frauen nun als anfälliger für die Entwicklung psychischer Störungen gelten müssen. Wie lässt sich dies erklären?
Die genderspezifischen Unterschiede bzgl. psychischer Störungen weisen auf eine Entwicklungslogik hin, die sich von Geburt an durch alle Lebensalter zieht. So unterscheiden dispositionelle Besonderheiten bereits neugeborene männliche und weibliche Säuglinge und erklären die besondere Anfälligkeit männlicher Säuglinge und Kinder. Aus der Interaktion zwischen dispositionellen Besonderheiten und Sozialisationsbedingungen resultieren unterschiedliche Passungsprozesse und -probleme, aus denen sich die genderspezifischen, unterschiedlichen Prävalenzen (Häufigkeiten) psychischer Störungsbildern und Entwicklungsstörungen erklären lassen. Mit Eintritt in die Pubertät und ins Berufsleben ist zu vermuten, dass sich die Entwicklungsnachteile von Jungen teilweise in Vorteile verwandeln und die Anpassung an die Herausforderungen der Umwelt nun erleichtern. Auf welche Faktoren dies zurückzuführen ist, bleibt eine offene bzw. zu diskutierende Frage
Dispositionelle Besonderheiten
Wie bereits dargestellt, haben Mädchen im Vergleich zu Jungen von Geburt an bis zum Eintritt in die Pubertät einen relativen Entwicklungsvorsprung (vgl. die Abschnitte zur motorischen und sprachlichen Entwicklung). Wie im Folgenden zu zeigen ist, sind Jungen darüber hinaus aufgrund dispositioneller Besonderheiten anfälliger für Entwicklungs- und Psychischen Störungen, da diese ihre Anpassungsfähigkeit an Umweltbedingungen (wie z. B. die schulischen Anforderungen) einschränken. Nach Schmidt (1999) sind dies:
- eine stärkere Empfindlichkeit des Zentralnervensystems,
- eine höhere motorische Aktivität (vgl. Abschnitt Basiswissen/Psychologisch/Motorische Entwicklung) und
- ein langsameres Entwicklungstempo (vgl. Abschnitt Basiswissen/Psychologisch).
Hinzu kommt, dass Jungen:
- mehr sprachliche Schwächen, (vgl. Abschnitt Basiswissen/Psychologisch/Sprachentwicklung)
- einen höheren Anteil leichter Intelligenzminderungen (vgl. Abschnitt Basiswissen/Biologisch/Intelligenz) und
- häufigere umschriebene Entwicklungsstörungen aufweisen (vgl. unten).
Für Mädchen werden keine dieser dispositionellen Entwicklungsnachteile beschrieben.
Logisch nachvollziehbar – wenngleich empirisch nicht belegt – ist, dass die dispositionellen Besonderheiten von Jungen häufiger zur Entwicklung eines sog. „Misfit“ (Largo, Kinderjahre), d. h. zu Passungsproblemen mit ihrer Umwelt führen müssen. Aus den Passungsproblemen wiederum folgen ungünstige biographische Erfahrungen, die sich im Laufe der Entwicklung verfestigen und eine Grundlage für die Entstehung spezifischer Störungsbilder sein können. Im weiteren Lebensverlauf können die Passungsprobleme eventuell spezifische Persönlichkeitsmerkmale (mit-) bedingen.
Literatur
- Largo, R. (1993) Babyjahre: Die frühkindliche Entwicklung aus biologischer Sicht. Das andere Erziehungsbuch. Piper
- Largo, R. (1999): Kinderjahre: Die Individualität des Kindes als erzieherische Herausforderung. Piper
- Schmidt, M. (1999) Kinder- und Jugendpsychiatrie. Kompendium für Ärzte, Psychologen, Sozial- und Sonderpädagogen. Deutscher Ärzte Verlag