Geschlechts- und gendersensibel handeln im Schulalltag

Etappen der Mädchen- und Jungenbildung seit der Aufklärung

J. Schlagbauer

18. und 19. Jahrhundert

Aufklärung und Industrialisierung verändern die Gesellschaft und in der Folge Erziehung und Schule. Leitbild ist nun der mündige Mensch, der seinen eigenen Verstand gebraucht, statt „Vormündern“ (Kant ) blind zu vertrauen, die ihm das Denken abnehmen. Soll dieses Ziel erreicht werden, müssen die Menschen – nicht mehr nur eine kleine geistige Elite von „Vormündern“ – lernen sich ihres Verstandes zu bedienen. Auf Erziehung und Schule ruhen damit hohe Erwartungen im Hinblick auf die angestrebten gesellschaftlichen Veränderungen.

Sind „die Menschen“ nun alle Menschen, Frauen und Männer gleichermaßen? Gilt also die gestiegene erzieherische Aufmerksamkeit Mädchen wie Jungen?

Das niedere Schulwesen wird beginnend im 18. Jahrhundert stark ausgebaut: Durchschnittlich besuchen Mitte des 19. Jahrhunderts mehr als 80 % der Kinder eines Jahrgangs, Jungen und Mädchen, zumindest die Elementarschule, die auch begrifflich zur „Volksschule“ wird.

Mädchen müssen sich jedoch weiterhin häufig mit einer geringeren Grundbildung begnügen. Sie lernen zwar das Lesen, aber nicht in allen Elementarschulen auch das Schreiben. In den großen Städten werden jedoch verstärkt an Volksschulen reine Mädchenklassen und auch eigene Mädchenschulen eingerichtet, die den Schülerinnen eine deutlich bessere Förderung bieten. Sie werden dort vor allem von Lehrerinnen unterrichtet, die einen geringeren Lohn erhalten als ihre männlichen Kollegen und dem Zölibatsgebot unterliegen, das erst in der Weimarer Republik aufgehoben wird.

Das höhere Schulwesen war noch bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein stark theologisch geprägt, da es ursprünglich vor allem auf die Ausbildung des geistlichen Nachwuchses ausgerichtet war. Um den veränderten Bedürfnissen einer sich modernisierenden Gesellschaft Rechnung zu tragen, müssen die höheren Schulen den künftigen Beamten, Medizinern und Kaufleuten über einen breiten Fächerkanon eine allgemeine Studierfähigkeit vermitteln. Den Mädchen sind diese Gymnasien, Kollegien und Lateinschulen verschlossen. Nur wenige gehen in eine internatsmäßig geführte Klosterschule, ansonsten werden Töchter zu Hause durch Mütter oder durch Hauslehrer unterrichtet.

Letzteres können sich die Vertreter des Bildungsbürgertums – Verwaltungsbeamte, Professoren, Gymnasiallehrer, Ärzte – nicht leisten. Sie wollen aber für ihre Töchter eine bessere Bildung. Deshalb werden private ‚höhere Mädchenschulen‘ gegründet – ‚höher‘, weil sie für ‚höhere Töchter‘ waren, keinesfalls gleichzusetzen mit den höheren Schulen für Jungen, denen sie nicht entsprechen. Weder vermitteln sie allgemeine Studierfähigkeit, noch vergeben sie Berechtigungen, ihre Schülerinnen sollen nur gerade so viel lernen, dass sie entweder für ihren bürgerlichen Ehemann eine angemessene Gesprächspartnerin und gewandte Gastgeberin abgeben oder, falls sie unverheiratet bleiben, in der Lage sind, sich selbst durch eine Berufstätigkeit, jedoch keine, die einen schulischen Abschluss voraussetzt, zu versorgen.

Ausgehendes 19. Jahrhundert – Anfang 20. Jahrhundert

 

Auswirkungen der bürgerlichen Frauenbewegung auf das Bildungswesen


Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erhalten einige ausgewählte höhere Mädchenschulen den Status einer staatlichen Schule. Damit verbunden ist erstmalig die Möglichkeit, dass Mädchen an diesen „Lyzeen“ einen mittleren Bildungsabschluss erwerben. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts eröffnen nach und nach alle deutschen Länder diese Möglichkeit. Außerdem können die Absolventinnen des Lyzeums nun den Besuch einer Oberstufe, der „Studienanstalt“, anschließen und auch das Abitur ablegen. In der Weimarer Republik haben dann auch junge Frauen ebenso wie die jungen Männer die Wahl zwischen verschiedenen Formen der Oberstufe (gymnasiale, oberreale, realgymnasiale Studienanstalt, Oberlyzeum u.a.).

Damit steht nach 1900 zum ersten Mal Frauen der uneingeschränkte Zugang zur Universität offen. Befördert wird diese Entwicklung u.a. durch den Bedarf an „Oberlehrerinnen“, denn für die staatlichen höheren Mädchenschulen werden nun Frauen mit der Lehrbefähigung für das höhere Lehramt gesucht. Diese Domäne war bisher ausschließlich Männern vorbehalten, da nur sie die Möglichkeit hatten, über ein wissenschaftliches Studium in zwei Fächern diese Lehrbefähigung zu erwerben. (Die Ausbildung der Elementarschullehrerinnen und –lehrer erfolgt seit Anfang des 19. Jahrhunderts in „Seminaren“ – mit eigenen Seminaren für Lehrerinnen – in einem zwei-, später dreijährigen Ausbildungsgang nach Besuch der Volksschule und der auf das Seminar vorbereitenden „Präparandenanstalt“.)

 siehe dazu auch Aussagen von Professoren über weibliche Studierende an der Universität

Drittes Reich, Nachkriegszeit und 1960er Jahre


Im Dritten Reich sind die Bildungsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen wieder deutlich reduziert worden, denn sie sollten nicht studieren, sondern Hausfrauen und Mütter werden und deshalb wurde für alle Abiturientinnen ein hauswirtschaftliches Pflichtjahr eingeführt.

In der Nachkriegszeit wird zunächst auf Schularten und Ausbildungsformen aus der Zeit vor dem Dritten Reich zurückgegriffen, da sich andere Probleme als schulische Reformen in den Vordergrund drängen.

Mitte der 1960er Jahre führt ein Zeitungsbeitrag von Georg Picht über Die deutsche Bildungskatastrophe zu teilweise äußerst heftig geführten Auseinandersetzungen über das Bildungswesen in Politik und Gesellschaft. Es geht vor allem um die Frage, wie schulische Ausbildung zu reformieren ist, damit erheblich mehr junge Menschen höhere Abschlüsse erreichen und den Anforderungen der modernen Wirtschaft und Wissenschaft gerecht werden können. Die Reformdebatten der 1960er und 1970er Jahre führen zu einer Reihe von Veränderungen im Bildungswesen. Dabei wird auch die Benachteiligung der Mädchen und Frauen in diesem Bereich beendet und tendenziell eine Gegenbewegung ausgelöst, die dazu führt, dass zur Jahrtausendwende mehr Mädchen als Jungen die gymnasiale Oberstufe besuchen und bessere Abschlüsse erreichen. Die noch bis Ende der 1960er Jahre zahlreichen höheren Mädchenschulen nehmen zunehmend auch Jungen auf. Monoedukativ sind fast nur noch Privatschulen, die koedukativ geführte Schule wird zur Regel.

1980er Jahre


Ende der 1980er Jahre ist die Koedukation bestimmendes Thema der öffentlichen Debatte über Schule und Bildung. Es wird festgestellt, dass Mädchen und Frauen in Schule, Studium und Beruf nach wie vor benachteiligt werden, trotz guter schulischer Leistungen und Abschlüsse. Sie würden etwa deutlich seltener von den Lehrkräften aufgerufen und in den Klassen als ‚soziales Schmieröl‘ eingesetzt. Beim Studium und bei der Berufswahl beschränken sich außerdem zu viele auf zu wenige Bereiche, nämlich auf das kleine Spektrum traditionell ‚weiblicher‘ Studienfächer und Berufe. Für die Frauen bedeutet das ein geringeres Einkommen, da die von ihnen bevorzugten Berufe weniger gut bezahlt sind. Zudem besteht aus Sicht der Gesellschaft und der Wirtschaft Veränderungsbedarf, da dringend mehr Frauen in den technisch-mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereichen gebraucht werden. Die Aufmerksamkeit richtet sich deshalb in der Schule vor allem auf Mädchenförderung im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich.

Beginn des 21. Jahrhunderts – PISA und die Folgen


Die PISA-Untersuchungen ab dem Jahr 2000 bestätigen die Notwendigkeit, die mathematische Kompetenz der Mädchen stärker zu fördern. Was jedoch in der Öffentlichkeit als Ergebnis der ersten PISA-Untersuchung ungleich stärker und als höchst beunruhigend wahrgenommen wird, das sind die Defizite der Jungen in der Lesekompetenz. Das signifikant schlechtere Abschneiden der Jungen gegenüber den Mädchen in diesem Bereich führt dazu, dass in Schlagzeilen und Buchtiteln nun Jungen als „Bildungsverlierer“ erscheinen. Außer dass sie in der Lesekompetenz von den Mädchen übertroffen werden, müssen sie häufiger als Mädchen eine Klasse wiederholen und stellen die Mehrheit in der Gruppe derjenigen, die Schule ohne einen Abschluss verlassen.

Aktuell bedeutet das für die Schule, der Jungenförderung die notwendige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, ohne die Mädchenförderung zu vernachlässigen. Dabei stellen die Begriffe „Jungenförderung“ und „Mädchenförderung“ eine grobe Vereinfachung dar, denn die Unterschiede innerhalb der Geschlechtergruppen sind größer als zwischen den Geschlechtergruppen. Gefragt sind deshalb gendersensible und genderkompetente Lehrerinnen und Lehrer.
[Hauptsächlich verwendete Quelle und Literaturempfehlung für die vertiefende Lektüre: Franz-Michael Konrad: Geschichte der Schule. Von der Antike bis zur Gegenwart. München 2007 (Reihe C.H.Beck Wissen)]

 

Literatur

  • Konrad, Franz-Michael (2007) Geschichte der Schule. Von der Antike bis zur Gegenwart. Reihe C.H.Beck Wissen
  • Löhr, B. (Hg.) (1994) Frauen in der Geschichte. Band 2: Materialien. Akademie für Lehrerfortbildung Dillingen/Donau. Deutsches Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen

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