Geschlechts- und gendersensibel handeln im Schulalltag

S. Seiler

Die unter den Menüpunkten „Psychische Störungen", „Passungsprobleme", „Störungsbilder – Prävalenzen", „Aggression", „SVV und Suizid" sowie „Persönlichkeitsstörungen" genannten Befunde sind nicht unanfechtbar und werfen verschiedene Fragen auf. Einige davon werden im Folgenden diskutiert.

 

Frage 1: Gehen die beschriebenen Prävalenz-Geschlechtsunterschiede auf einen diagnostischen Bias der Diagnostizierenden zurück?

Die Gültigkeit der beschriebenen Geschlechtsunterschiede bei Psychischen Störungen ist nicht unumstritten, da die Diagnostik ebenfalls genderspezifischen Vorstellungen folgt. So kann nicht ausgeschlossen werden, dass es aufgrund genderspezifischer Erwartungen und/oder von Wahrnehmungseffekten der Diagnostizierenden zu Verzerrungen kommt. Die Diagnostizierenden selbst könnten also einem genderspezifischen, gesellschaftlichen Bias folgen und hierdurch ihre Objektivität verlieren. Außerdem ist davon auszugehen, dass sie von manchen Untersuchten bestimmte – tabuisierte - Symptome nicht ausreichend beschrieben bekommen. Entsprechend haben die Angaben zu den Prävalenzen aus den unterschiedlichen Untersuchungen auch eine enorme Schwankungsbreite. Einen Unterschied macht es auch, ob man Prävalenzschätzungen der Gesamtbevölkerung zugrunde legt oder sich auf klinische bzw. andere Stichproben bezieht. (Dies wird bei manchen Untersuchungen zu Persönlichkeitsstörungen getan.)

 

Beispiel:
Betrachtet man die Sozialverhaltensstörungen – diese werden wesentlich häufiger bei Jungen diagnostiziert - so entsprechen die Formen aggressiven Verhaltens, die zur Diagnose in den Klassifikationssystemen herangezogen werden, wahrscheinlich nicht jenen, die eher von Mädchen gezeigt werden. Nicht auszuschließen ist, dass deren Formen aggressiven Verhaltens vielleicht insgesamt schwächer ausgeprägt, subtiler und indirekter sind, wenngleich Merkmale einer antisozialen Einstellung durchaus vorhanden sind. Zudem haben Untersuchungen gezeigt, dass Mädchen in dieser Hinsicht anders beurteilt werden: Bei ihnen werden die zugrundeliegenden verursachenden, rechtfertigenden oder entschuldigenden Faktoren von den Beurteilenden stärker gewichtet. Die Folge ist eine nachsichtigere strafrechtliche Verfolgung der Mädchen bei vergleichbaren Delikten, die von Jungen begangen wurden, sowie ein anderer Umgang mit Sozialverhaltensstörungen. Mädchen werden in diesem Falle eher psychotherapeutisch, Jungen eher erzieherisch behandelt (vgl. auch die Ausführungen unter „Aggression"). Mädchen werden eher als „krank", Jungen eher als „schlecht" etikettiert.


Bezieht man diese Überlegungen mit ein, so lässt sich schlussfolgern, dass Geschlechtsunterschiede in den Prävalenzen (z. B. der Sozialverhaltensstörungen) zwar bestehen, vermutlich aber überbewertet werden.

 

Frage 2: Spiegeln die Unterschiede in den Prävalenzen gesellschaftliche Klischeevorstellungen darüber wider, wie Jungen und Mädchen sind?

Die Geschlechtsverteilungen bei den Psychischen Störungen und den Persönlichkeitsstörungen spiegeln gesellschaftliche, genderspezifische Vorstellungen darüber wider, wie Frauen und Männer „sind" und entsprechen daher häufigen geschlechtsspezifischen Zuschreibungsmustern („Männer/Frauen sind..."). Dies gilt vor allem für die Tatsache, dass externalisierende Störungen typisch „männlich" sind oder für die Beschreibung mancher Persönlichkeitsstörungen (z. B. die dissoziale oder die Borderline-Persönlichkeitsstörung, vgl. auch die Ausführungen unter „Störungsbilder – Prävalenzen"). Insofern ist zu vermuten, dass ein Wechselwirkungsprozess besteht zwischen der Diagnose und Beschreibung einerseits und der Orientierung von Mädchen/Jungen bzw. Frauen/Männern an bestimmten Störungsbildern andererseits. Mit anderen Worten, bestimmte Störungsbilder werden Jungen/Mädchen eher „zugeschrieben" bzw. Jungen/Mädchen orientieren sich in der Symptombildung an geschlechtstypischen Rollenbildern, die in den Diagnosen enthalten sind.

 

Beispiel:
Häufig beschrieben wird beispielsweise, dass es für Jungen und Männer gesellschaftlich weniger anerkannt ist, z. B. zu Ängsten, Depressionen oder Posttraumatischen Belastungsstörungen zu stehen. Entsprechend ist zu vermuten, dass Jungen und Männer sich schwerer damit tun, über entsprechende Symptome zu berichten und/oder sich behandeln zu lassen (und dies, obwohl Jungen und Männer ein insgesamt größeres Risiko haben, Traumata zu erleben).

 

Beispiel:
Häufig beschrieben wird auch, dass bei der Entwicklung von Essstörungen (v. a. Magersucht und Bulimie) der Orientierung an gesellschaftlichen Normvorstellungen eine zentrale Rolle zukommt (z. B. durch die Medien vermittelte Schönheitsideale). Zudem hat bei deren Entwicklung die Zugehörigkeit zu einer entsprechenden sozialen Vergleichsgruppe (z. B. Freundes- oder Bekanntenkreis, Soziale Netzwerke, themenspezifische Chatrooms, o. ä.) einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss. Mit anderen Worten bedeutet dies, dass es für die Entwicklung einer Essstörung wesentlich ist, inwieweit sich Betroffene an den in den Medien, der Peer-Gruppe oder den Chatrooms vermittelten Rollenvorbildern orientieren und inwieweit die dort zentralen Themen für ihre Persönlichkeitsentwicklung relevant sind (z. B. Fokussierung auf die eigene körperliche Attraktivität oder eine restriktive Haltung gegen sich selbst).


Zusammenfassend lassen sich vielfältige genderspezifische gesellschaftliche Einflussfaktoren identifizieren, die sich auf die Prävalenzen psychischer Störungen auswirken. „Doing-Gender"-Prozesse haben demnach auch einen Einfluss darauf, welche psychischen Störungsbilder Mädchen und Jungen entwickeln.

 

Frage 3: Lässt sich aus den dargestellten Befunden zu den Prävalenzen von Psychischen Störungen auf besondere genderspezifische Kompetenzen/Kompetenzdefizite von Mädchen und Jungen schließen?

Mit den kinder- und jugendpsychiatrischen Störungsbildern sind jeweils unterschiedliche Kompetenzen bzw. Kompetenzdefizite verknüpft. Die Häufigkeitsunterschiede zwischen den Geschlechtern weisen insofern auf genderspezifische Kompetenzen bzw. Kompetenzdefizite hin.
Hierbei geht es immer wieder um defizitäres Sozial- und Kommunikationsverhalten mit den Extremausprägungen „rigorose Durchsetzung eigener Bedürfnisse" einerseits und „übermäßige Anpassung an die Bedürfnisse anderer" andererseits. Ein angemessenes Sozialverhalten wiederum setzt gute kommunikative Fähigkeiten voraus, mit denen es gelingt, die Durchsetzung der eigenen Bedürfnisse mit der Umwelt zu verhandeln. Hinsichtlich der Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (AD(H)S) geht es zentral um selbstregulatorische Fähigkeiten. Außerdem spiegeln sich in den Diagnosen unterschiedliche Ausprägungen von Bindungs- und Autonomiebedürfnissen wider. Nicht zu vernachlässigen ist schließlich, dass es v. a. bei den internalisierenden Störungen u. a. um die Ausprägungen von Selbstkonzept und Selbstwert geht. Für die Beantwortung obiger Fragestellung wären genderspezifische Forschungen wünschenswert, die sich differenziert mit den o. g. Kompetenzen beschäftigen. Denn an dieser Stelle vermischt sich die deskriptive Ebene mit normativen gesellschaftlichen Vorstellungen davon, was als kompetentes Verhalten anzusehen ist.


Betrachtet man die unterschiedlichen Prävalenzen Psychischer Störungen, so scheinen Jungen und Männer stärker auf die (autonome) Durchsetzung eigener Bedürfnisse zu fokussieren, Mädchen und Frauen hingegen stärker auf Anpassung und Bezogenheit. Entsprechend werden Mädchen und Frauen als sozial kompetenter und bindungsfähiger erlebt, Jungen und Männer als sozial inkompetenter jedoch selbstsicherer und autonomer – im Sinne von autark. Vereinfacht gesprochen bedeutet dies auch, dass Jungen stärker dazu neigen, ihre Probleme auszuagieren und vor allem feindselige Gefühle in stärkerem Maße erleben. Für Mädchen scheint dies gesellschaftlich eher tabuisiert zu sein, sodass sich ihre Symptome eher nach innen richten bzw. zum Ausdruck bringen, dass es ihnen nicht ausreichend gelingt, eigene Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu rücken und durchzusetzen.
Betrachtet man Psychische Störungsbilder qualitativ, so lassen sich hierdurch genderspezifische Kompetenzen bzw. Kompetenzdefizite beschreiben, die mit den jeweiligen Störungsbildern verbunden sind. Hierbei lassen sich störungsübergreifende Muster erkennen.


Frage 4: Bedeutet dies, dass Jungen und Mädchen unterschiedliche Entwicklungsaufgaben wahrnehmen und sich auf jeweils spezifische Weise mit diesen auseinandersetzen?

Das oben Genannte könnte auf einen stärkeren sozialen Anpassungsdruck und „Bindungsdruck" bei Mädchen hinweisen und darauf, dass deren Entwicklungsfokus stärker auf die eigene soziale Integration und das Herstellen von Bezogenheit gerichtet ist. Mädchen identifizieren sich stärker mit der Aufgabe, des Aufbaus und des Erhalts zwischenmenschlicher Beziehungen. Sie streben Autonomie in stärkerem Maße durch Herstellen neuer sozialer Verknüpfungen her, insbesondere wenn sie ihre Bindungen zur Herkunftsfamilie lösen. Dies erleichtert ihnen die gemeinschaftliche Problemlösung, erschwert aber den offenen und direkten Ausdruck von feindseligen Gefühle und Aggression. Es wäre daher einleuchtend, dass Distanz und Aggression generierende Gefühle - wie Ärger, Wut, Hass, Zorn und Empörung - bei Mädchen seltener auftreten. Gefühle hingegen, die soziale Unterstützung generieren - wie Angst, Trauer, Hilflosigkeit -, bei ihnen entsprechend häufiger zu finden wären. Dies entspräche einer (noch immer) gesellschaftlich geförderten Rollenvorstellung, die beinhaltet dass sich Frauen in erster Linie um die Familie – und damit um die Verwirklichung kollektivistischer Werte - zu kümmern haben.
Die bei Jungen stärker repräsentierten, distanzschaffenden Gefühle hingegen könnten auf einen Individualisierungsdruck hinweisen. Von ihrem Anspruch her sind Jungen von der Kindheit an mehr auf das Herstellen von Autonomie – im Sinne von Autarkie – fokussiert. Stärker als Mädchen fordern Jungen ein, Probleme selbst zu lösen und ihr Leben eigenständig zu lenken. Kommen sie hierbei an ihre Grenzen (z. B. weil sie Entwicklungsdefizite haben), fällt es ihnen schwerer Hilfen in Anspruch zu nehmen ohne sich in ihrer Autonomie bedroht zu fühlen. Abhängigkeit und soziale Bindung generierende Gefühle bedrohen diese Autonomie und müssen deutlicher abgewehrt werden. Im Selbstverständnis von Jungen spielt internale Kontrolle und Selbstwirksamkeit vermutlich (vgl. die genderspezifischen Attributionsmuster) eine größere Rolle als bei Mädchen. Beeinträchtigungen - die durch Entwicklungsrückstände und –störungen entstehen - müssen bei Jungen daher auch eine entsprechend größere schädigende Wirkung entfalten, da hierdurch die besonderen Ansprüche auf Autonomie und Selbstwirksamkeit frustriert werden. Sozialverhaltensstörungen und Oppositionalität zeigen, dass Jungen stärker damit kämpfen, eigene Bedürfnisse zu erkennen, um diese dann durchsetzen zu können. Die Wahrscheinlichkeit dysfunktionale Muster zu entwickeln ist deshalb bei ihnen größer als bei Mädchen. Bis zur Pubertät könnte das also einen Autonomiekonflikt bei Jungen aufzeigen, die einerseits eine stärkere Bedürftigkeit und andererseits einen stärker ausgeprägten Autonomieanspruch haben. Es verwundert daher nicht, dass Jungen häufiger Sozialverhaltensstörungen (z.B. auch Einkoten wird als Symptom der Oppositionalität gewertet), Störungen der Impulskontrolle und Bindungsstörungen entwickeln.

 

Frage 5: Trifft es zu, dass jene Eigenschaften, die Jungen in der Kindheit zunächst einen Entwicklungsnachteil bescheren, sich spätestens im Erwachsenenalter zu einem Entwicklungsvorteil wandeln?

Die oben genannten Befunde weisen eine Entwicklungslogik auf, die damit beginnt, dass Jungen von Geburt an vulnerabler sind. Nicht auszuschließen ist, dass ihre höhere motorische Aktivität, reizunempfindlicheren Gehirne (als Leitsymptome bzw. Erklärung der Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung), stärkere Impulsivität und geringeren selbstregulatorischen Fähigkeiten zum Ausagieren von Problemen prädisponieren. Hinzu kommt die höhere Anfälligkeit für Entwicklungsstörungen von Jungen, die zu besonderen Frustrationen und Selbstbildkonflikten führen. Der komplexe Wechselwirkungsprozess zwischen diesen genetisch mitbedingten Prädispositionen und Umweltbedingungen führt vermutlich dazu, dass (für diese Jungen ungünstige) Passungsprozesse die Entwicklung von Störungen nicht kompensieren können, sondern eher verstärken. Die Folge sind die durchgängig beschriebenen größeren Häufigkeiten psychischer Störungen bei Jungen bis zur Pubertät.
Mit der Pubertät bzw. Adoleszenz aber verwandelt sich die Vulnerabilität in einen Entwicklungsvorteil für männliche Jugendliche bzw. Männer, der dadurch zum Ausdruck kommt, dass fast alle psychischen Störungen nun häufiger bei Frauen auftreten. Dies lässt sich sicherlich nicht alleine durch die mit dem Pubertäts-Wachstumsendspurt entstehende körperliche Überlegenheit von jungen Männern erklären. Zusätzlich ist zu vermuten, dass Verhaltensweisen, die im Kindesalter als defizitär beschrieben wurden nun positiver besetzt sind und zu spezifischen Kompetenzen werden, v. a. in Hinblick auf Beruf und Partnerwahl. So ist beispielsweise zu vermuten, dass es im Beruf noch immer karriereförderlich ist, neben anderen auch über einen Teil jener Verhaltensweisen zu verfügen, die im Kindesalter als sozial inkompetent beschrieben werden, z.B. die rigorose Durchsetzung eigener Bedürfnisse. Wenig karriereförderlich ist es hingegen, wenn man sich (übermäßig) an den Bedürfnissen anderer ausrichtet. Ein reizunempfindlicheres Gehirn kann nun auch protektiv wirken, indem man psychisch weniger störbar für Außenreize und –einflüsse ist.
Die stärker auf die Durchsetzung persönlicher Vorstellungen und Bedürfnisse fokussierte Entwicklung von Jungen könnte also auch darauf hinweisen, dass diese sich frühzeitig mit den Erwartungen und Erfordernissen des Berufslebens auseinandersetzen bzw. entsprechend erzogen werden (über Modelllernen, Erwartungen der Eltern). Jungen könnten potentiell also eine paradoxe Situation vorfinden, indem sie einerseits (vielleicht untergründig) frühzeitig in ihrer Durchsetzungsfähigkeit gefördert werden und ihnen andererseits im Kindes- und Jugendalter versucht wird, ihnen diese abzugewöhnen. Dies macht sie anfällig sowohl für die Entwicklung externalisierender Störungen als auch für die Entwicklung Sozialer Ängste, die durch die Angst vor der Bewertung durch andere Personen und die Angst vor sozialen Vergleichsprozessen definiert werden.
Zusammenfassend lässt sich ein Paradoxon in der Erziehung von Mädchen und Jungen erkennen. Die gesellschaftliche Bewertung bestimmter Verhaltensweisen fällt im Kindes- und Jugendalter anders aus als im Erwachsenenalter. Wo Kinder und Jugendliche offen eher dazu erzogen werden, soziale Kompetenzen zu entwickeln - definiert durch die angemessene Durchsetzung eigener Bedürfnisse und Kompromissfindung -, stellen sich eben solche Verhaltensweisen im Erwachsenenalter und Berufsleben auch als karrierehinderlich dar. Kinder und Jugendliche müssen sich frühzeitig mit diesen paradoxen Botschaften auseinandersetzen. Dies kann ein Entstehungsfaktor für bestimmte Störungsbilder sein (z. B. für externalisierende Störungen und Soziale Angst).

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