S. Seiler
Als weithin anerkannt gilt, dass Jungen aggressiver seien als Mädchen. Dies wird auch dann postuliert, wenn man aggressives Verhalten abgestuft erfasst und Formen nicht-körperlicher Aggression einbezieht (z. B. verbale Aggressionen, oppositionell-aggressives Verhalten). In all diesen Bereichen zeigen die Prävalenzraten, dass Jungen wesentlich häufiger betroffen sind als Mädchen und dass sie zudem hinsichtlich des Schweregrads stärkere Ausprägungen zeigen. Dieser Unterschied in Bezug auf Aggressionen zwischen den Geschlechtern gilt zudem bereits für (Klein)Kinder, später Jugendliche, junge Erwachsene und bleibt über die gesamte Spanne des Erwachsenenalters erhalten.
Für diese Befunde werden zunächst biologische Ursachen angenommen (z. B. das männliche Geschlechtshormon Testosteron), die mit Sozialisationsfaktoren in Wechselwirkung treten. Sie spiegeln in gewisser Weise aber auch ein gesellschaftliches Vorurteil wieder. Nicht auszuschließen ist, dass die Formen weiblicher Aggressionen subtiler, versteckter und indirekter sind und daher schwerer erkannt bzw. erhoben werden können. Unsere gesellschaftlichen Normen tabuisieren Gewalt von Frauen und Mädchen, während sie für Jungen und Männer eher als ein anerkanntes Mittel zur Durchsetzung persönlicher Bedürfnisse gesehen werden. Zudem betonen manche Autoren hinsichtlich delinquenten Verhaltens, dass Frauen durch sog. „vikarielles Erleben“ (vgl. Petzold 1993) ein alternativer Weg zur direkt gezeigten Gewalt offensteht: Sie suchen sich delinquente Partner und „profitieren“ von deren gelebter Aggression.
In den vergangenen Jahren – vor allem etwa seit Ende der 90er Jahre - wurde die Zunahme der Gewaltbereitschaft vor allem bei adoleszenten Mädchen diskutiert und immer stärker von der Öffentlichkeit wahrgenommen. Allen biologischen Thesen zum Trotz steigen die Zahlen von aggressivem und delinquentem Verhalten von Mädchen und Frauen signifikant stärker als jene von Männern und Jungen.
Zu bedenken ist dabei, dass die Toleranz für von Frauen und Mädchen gezeigte Aggression und Delinquenz besonders gering ausfällt und deshalb entsprechende Zahlen u. U. überbewertet wurden. Die Öffentlichkeit erlebte die Berichte bzw. Studienergebnisse als sehr schockierend. Die Wahrnehmungssensibilität nahm zu. Trotz aller gebotenen Vorsicht bei der Interpretation der einschlägigen Untersuchungen, ist der Trend, dass Mädchen und Frauen in Bezug auf gezeigte Aggression aufholen, in diversen Erhebungen eindeutig dokumentiert worden (vgl. Zahlen des Bundeskriminalamtes für 2000, Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen für 2011). Die Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Gewaltdelikte sind nach wie vor Jungen- bzw. Männersache, entsprechend sind 76% aller 8 – 21-jährigen Tatverdächtigen männlich, nur 24% weiblich.
- Die Formen weiblicher Delinquenz umfasst häufiger minderschwere Formen (weniger körperliche Gewalt, mehr Eigentumsdelikte).
- Hinsichtlich körperlicher Gewalt und Delikten der Körperverletzung holen Mädchen offenbar seit Jahren mit erheblichen Steigerungsraten auf (vgl. Angaben des Landeskriminalamtes NRW für 2011).
- Beschrieben wird zudem, dass „kriminelle Banden“ zunehmend ihre Geschlechtshomogenität verlieren und weibliche Jugendliche und junge Erwachsene immer öfter in tragenden Rollen auftreten.
Für delinquentes Verhalten an Schulen beschreibt der „Bericht zur Jugendkriminalität: Ein Thema für die Schule?“, der zusammen von mehreren bayerischen Ministerien (u. a des bayerischen Kultusministeriums) 2000 herausgegeben wurde, ein Bild, das dem oben Gesagten entspricht. So sind etwa 84% der 6-13-Jährigen, 84% der 14-17-Jährigen und etwa 89,5% der 18-20-jährigen Tatverdächtigen an bayerischen Schulen männlichen Geschlechts. Außerhalb der Schule ist das Verhältnis nicht ganz so deutlich: 72% der 6-13-jährigen, etwa 73,8% der 14-17-jährigen, etwa 80% der 18-20-jährigen Tatverdächtigen.
Interessant ist auch, dass der Häufigkeitsgipfel der in der Schule erfassten Delinquenz für Mädchen etwa im Alter von 14 Jahren liegt, der für Jungen im Alter von etwa 16 Jahren. Dies korrespondiert mit den Angaben des Bundeskriminalamtes für 2000, nach denen der Häufigkeitsgipfel für Delinquenz allgemein bei Männern im Alter zwischen 18 und 20 Jahren, der für Mädchen/Frauen zwischen 14 und 16 Jahren liegt. Diese Ergebnisse bestätigen auch im Bereich der Delinquenz den „Entwicklungsvorsprung“ von Mädchen.
Biologische Bedingungen der Delinquenz?
Eine mögliche biologische Ursache dissozialer Entwicklungsverläufe (neben anderen, z. B. sozialen Faktoren) besteht in der verminderten vegetativen Erregbarkeit von Kindern (z. B. niedrigere Allgemeinerregung des Gehirns im EEG, niedrigerer Hautwiderstand), die in Studien korrelativ in Zusammenhang gebracht werden konnte mit delinquenten Entwicklungsverläufen. So zeigte sich in 22 von 26 Studien zu diesem Zusammenhang (vgl. Raine, 2011), dass Kinder mit Sozialverhaltensstörungen und dissozialem Verhalten eine erniedrigte Ruhepulsrate hatten. Zu diesem Zusammenhang formuliert Raine (2011) folgende 5 Grundannahmen:
- Kinder mit aggressivem Verhalten haben ein niedrigeres physiologisches Erregungsniveau,
- ein hohes physiologisches Erregungsniveau schützt vor der Entwicklung dissozialen Verhaltens,
- diese Annahmen gelten in gleicher Weise für Mädchen und für Jungen,
- die Ausprägung des physiologischen Erregungsniveaus kann durch Behandlungsmethoden positiv beeinflusst werden,
- mit Hilfe der therapeutischen Anhebung des physiologischen Erregungsniveaus lassen sich dissoziale Entwicklungsverläufe positiv beeinflussen.
Ein solcher Zusammenhang wird auch für Erwachsene angenommen, da sich für die externalisierenden Störungsbilder (Hyperkinetische Störungen, Sozialverhaltensstörungen) ein Zusammenhang mit verminderter Erregbarkeit des Gehirns zeigt und für die internalisierenden Störungsbilder (z. B. Angst, Depression) ein Zusammenhang mit gesteigerter Erregbarkeit des Gehirns (vgl. die „Fearlessness Theorie“, Raine 2002). Die Folge ist ein hohes Maß an Angstlosigkeit bei Kindern mit niedrigerem physiologischen Erregungsniveau. Anders ausgedrückt bedeutet das, dass sozialverhaltensgestörte Kinder und Erwachsene einen Mangel an Reizen erleben und entsprechend reizsuchendes Verhalten entwickeln. Sie haben weniger Furcht vor psychosozialen Konsequenzen und befürchten weniger, sich bei körperlichen Auseinandersetzungen verletzen zu können. Bei ängstlichen Kindern und Erwachsenen hingegen genügen bereits schwache Ausprägungen von Reizen, um eine starke, aversive Wirkung zu entfalten, deshalb vermeiden diese Personen starke Reize.
Studien zeigten außerdem, dass sich die beschrieben physiologischen Grundlagen durch therapeutische Interventionen verändern lassen und damit dissoziale Entwicklungsverläufe abgeschwächt oder verhindert werden können. Raine (2011) führt aus, dass Trainingsprogramme, die auf erzieherische Interventionen und körperliches Training fokussierten, zu einem höheren Erregungsniveau, einem besseren Trainingszustand und besseren kognitiven Kompetenzen (z. B. Aufmerksamkeit) führten. Biologische Prädispositionen zu Dissozialität sind entsprechend veränderbar und kein unabwendbares Schicksal.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass komplexe Wechselwirkungsprozesse stattfinden zwischen genetischer Prädisposition - von der mehrheitlich Jungen betroffen sind - und ungünstigen Sozialisationssbedingungen, die zu den oben genannten Geschlechtsunterschieden führen.
Genderspezifischer gesellschaftlicher Umgang mit Delinquenz
Studien aus unterschiedlichen europäischen Ländern zeigen, dass Mädchen bei Auffälligkeiten des Sozialverhaltens eher als psychisch krank bezeichnet (bzw. diagnostiziert) und entsprechend häufiger im klinischen Kontext behandelt werden (vgl. Kaivosoja, 2011). Jungen mit Auffälligkeiten des Sozialverhaltens hingegen werden wesentlich öfter als charakterlich defizitär beschrieben und entsprechend häufiger in (forensischen, erzieherischen) Jugendhilfemaßnahmen betreut.
Metastudien belegen darüber hinaus (vgl. Morris, 1987), dass Mädchen und Frauen bei vergleichbaren Delikten von den Gerichten weniger streng beurteilt werden und entsprechend geringere Strafen bekommen.
Folgende Schlussfolgerung kann formuliert werden: Bei delinquenten Mädchen und Frauen werden eher die Ursachen des gezeigten Verhaltens fokussiert, während bei Männern und Jungen eher die Tat als solche gesehen wird. Entsprechend kommen bei Mädchen und Frauen in stärkerem Maß Entschuldigungs- und Rechtfertigungsgründe zum Tragen bzw. es werden eher therapeutische Maßnahmen in die Wege geleitet, als bei Jungen und Männern.
Literatur
- Bayerisches Staatsministerium des Inneren, Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus, Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bayerisches Staatsministerium der Justiz (Hg.) (2001) Jugendkriminalität. Ein Thema für die Schule?
- Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminalstatistik 2000
- Kaivosoja, M. (2011) Unfreiwillige Hospitalisierung und Zwangsbehandlung von delinquenten Jugendlichen unter besonderer Berücksichtigung von Geschlechtsunterschieden. In: Preuß, U. (Hg) (2011) Bad Boys Sick Girls. Geschlecht und dissoziales Verhalten. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
- Landeskriminalamt Nordrhein-Westfahlen: Kriminalstatistik 2011
- Morris, A. (1987) Women, Crime and Criminal Justice. London: Croom Helm
- Petzold, H. (1993) Integrative Therapie – Modelle, Theorien und Methoden für eine schulenübergreifende Psychotherapie. Junfermann
- Pfeiffer, Ch., et al. (2007) Die PISA-Verlierer – Opfer ihres Medienkonsums. Eine Analyse auf der Basis verschiedener empirischer Untersuchungen. Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V.
- Raine, A. (2002) Annotation: The role of prefrontal deflicts, low autonomic arousal, and early health factors in the development of antisocial and aggressive behavior in children. In: Child Psychol Psychiatry, 43 (4), S. 417-434
- Raine, A. (2011) Bad Boys – Sick Girls – Verminderte vegetative Erregbarkeit als Prädisposition für Norm abweichendes Verhalten bei weiblichen und männlichen Jugendlichen. In: Preuß, U. (Hg.) (2011) Bad Boys Sick Girls. Geschlecht und dissoziales Verhalten. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft