A. Hereth

Heranwachsende nutzen Medien in der Regel auch dazu, „klassische“ Entwicklungsaufgaben zu meistern. Hier wird auf verschiedene Aspekte der Mediennutzung von Mädchen und Jungen eingegangen, die für das Handlungsfeld Schule von besonderer Relevanz sind. Sie finden Kurzdarstellungen empirischer Befunde zu den Bereichen TV, TV / digitale Medien und digitale Medien sowie Schlussfolgerungen daraus für die gendersensible pädagogisch-psychologische Arbeit.

 

TV

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Eine US-amerikanische Längsschnittstudie (Christakis et al. 2004) mit 1000 Kleinkindern zeigt Zusammenhänge zwischen Fernsehen mit 1 bis 3 Jahren und dem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (= ADHS, siehe auch unter „Basiswissen/Psychologisch/Motorische Entwicklung“ und „Handlungswissen/Psychologisch/Störungsbilder-Prävalenzen“: z.B. werden Hyperkinetische Störungen bei Jungen 8 mal so häufig diagnostiziert wie bei Mädchen). In der Längsschnittstudie wurden ebenfalls negative Effekte gefunden zwischen dem Fernsehkonsum im 3. bis 5. Lebensjahr und der Rechen-, Sprach- und Lesekompetenz dieser Kinder im Alter von 6 bzw. 7 Jahren (siehe auch unter „Basiswissen/Psychologisch/Sprachliche Entwicklung“ und „Handlungswissen/Psychologisch/Störungsbilder-Prävalenzen“ zu Entwicklungsstörungen). „Negative Effekte“ bedeutet: Je höher der Fernsehkonsum in der frühen Kindheit war, umso geringer sind die späteren Rechen-, Sprach- und Lesekompetenzen der Kinder ausgeprägt.  Die gefundenen Unterschiede bei den Rechen- und Leseleistungen waren nicht abhängig vom sozio-ökonomischen Status der Eltern oder dem IQ des Kindes.  (Stichprobengröße 1.800 Kinder, Christakis et al. 2004).

In einer neuseeländischen Langzeitstudie (Stichprobengröße im Jahr 1972 N=1773 / 2014 N=1037; Robertson et al. 2013) wurden signifikante positive Korrelationen zwischen hohem Fernsehkonsum im Alter von 5-15 Jahren und Negativer Emotionalität sowie aggressiven Persönlichkeitsmerkmalen im Erwachsenenalter gefunden sowie negative Korrelationen zwischen dem Fernsehkonsum und Positiver Emotionalität. Die Effekte waren jeweils bei den männlichen Probanden stärker, insbesondere beim Merkmal Aggressivität. Auch Antisoziale Persönlichkeitsstörungen wurden bei ihnen häufiger diagnostiziert (siehe dazu auch „Handlungswissen/Psychologisch/Aggression" und „Handlungswissen/Psychologisch/Persönlichkeitsstörungen"). Je länger der tägliche TV-Konsum in Kindheit und Jugend war, desto größer war das Risiko der weiblichen und männlichen Probanden, als junge Erwachsene strafrechtlich verurteilt zu werden: „... we found each additional hour of weekday television viewing increased the odds for antisocial outcomesFor example, even after adjusting for confounders, the risk of having a criminal conviction by age 26 was about 30% higher for each additional hour of viewing per weeknight.“ (Robertson, 445). Die Forscher geben an, dass Variablen – wie z.B. der sozioökonomische Status oder der Erziehungsstil der Eltern, das Geschlecht oder der IQ der Probanden – bei der Aufklärung der Varianzen nicht relevant seien. Es sei auch nicht so, dass Kinder, die bereits antisoziales Verhalten zeigen, mehr fernsehen als andere Kinder. 

 

TV / digitale Medien

Als gut abgesichertes Forschungsergebnis gilt, dass mit wachsender Dauer des Medienkonsums eines Heranwachsenden seine Schulleistungen sinken. So fanden z.B. Pfeiffer et al. (2007), dass „Kinder der vierten Klasse, die über keine eigne Medienausstattung bestehend aus Fernseher und Spielkonsole im Kinderzimmer verfügen, (...) in den Schulfächern Deutsch, Sachkunde und Mathematik um 0,2 bis 0,4 Notenpunkte besser [sind] als die Vergleichsgruppe mit dieser Medienausstattung." (Pfeiffer et al. 2007, 11) Die Notenunterschiede im Fach Deutsch umfassen 0,47 bis 0,66 Notenpunkten bei den Jungen, die nie spielen, und solchen, die ihre Freizeit oft mit Spielen ohne Jugendfreigabe verbringen, mit Spielen also, die gemäß der Organisation „Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle" mit dem Etikett „USK-18" versehen und damit gemäß §14 des Jugendschutzgesetzes erst ab 18 Jahren freigegeben sind.

Pfeiffer et al. (2007) starteten 2005 eine Längsschnittstudie mit 1.059 Grundschülern der dritten Klasse. Befragt wurden auch die Eltern. Erste Ergebnisse der Erhebungen sind: Wenn ein Junge im Kinderzimmer sowohl über einen eigenen Fernseher als auch über eine Spielkonsole verfügt, wird er davon stärker beeinflusst als ein Mädchen. Erklärt wird dies mit den deutlich höheren Nutzungszeiten der Jungen. (vgl. Pfeiffer et al. 2007, 15) Nicht nur die Schulleistungen beeinflusst die Medienvollausstattung im Kinderzimmer, sondern z.B. auch die physische Gesundheit. „Von den Kinder, die bei der ersten Messung über einen Fernseher und eine Spielkonsole verfügten, waren zu diesem Zeitpunkt doppelt so viele übergewichtig bzw. adipös als in der Vergleichsgruppe der Kinder ohne diese Ausstattung.“ (Pfeiffer et al. 2007, 15)

Der Zusammenhang zwischen Medienkonsum und Schulleistung wird moderiert durch die Variablen ethnische Zugehörigkeit, Bildungshintergrund im Elternhaus, Familienklima sowie Erziehungsstil. Sind die häuslichen Rahmenbedingungen gut, verringern sich die Effekte des Medienkonsums auf die Schulleistungen eines Kindes deutlich. Am stärksten sinken Schulleistungen, wenn bei Jungen eine Vorliebe für Mediengewalt gefunden wird. „Eine aktive Medienerziehung der Eltern führt sowohl zu einer verringerten Präferenz für Mediengewalt als auch zu einer allgemeinen Reduktion der Mediennutzungszeit. Auch ein positives, gewaltfreies Familienklima trägt zu niedrigeren Medienzeiten bei." (13) (siehe auch unter Migrationshintergrund und Elternarbeit)

 

Digitale Medien

Jugendliche nutzen digitale Medien in der Regel auch dazu, „klassische" Entwicklungsaufgaben zu meistern, mit denen sie sich schon auseinandergesetzt haben, bevor es Handy, Notebook, E-Book, Laptop usw. gab. Altersentsprechend wichtig ist das Interesse daran, soziale Netzwerke mit Gleichaltrigen auch über das Web zu pflegen. Eine Kehrseite dieser Aktivitäten ist, dass in Deutschland 20-40% der Jugendlichen angeben, von Cyberbullying betroffen zu sein (Mora-Merchàn et al. 2010, zitiert nach Neuber et al. 2014, 82). Neuber et al. werteten die webbasiert erhobenen Daten von 1850 Jugendlichen im Alter von 12 bis 19 Jahren aus. Untersucht wurden Zusammenhänge von Cyberbullying mit traditionellem Bullying und von Cyberbullying mit Persönlichkeitseigenschaften. Bei der Auswertung wurden auch geschlechtsspezifische Differenzen berücksichtigt: Männliche Täter üben im Vergleich zu Täterinnen überzufällig häufig sowohl traditionelles Bullying als auch Cyberbullying aus sowie häufiger ausschließlich Cyberbullying im Vergleich zu Bullying-Täterinnen (Neuber et al., 83). Mädchen sind im Vergleich zu den Jungen signifikant häufiger Opfer beider Bullyingformen (Neuber et al., 87).

In der „JIM-Studie 2020 – Basisuntersuchung zur Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen" (PDF) wurden in einer repräsentativen Stichprobe 1002 deutsche Jugendliche telefonisch befragt. Wichtig in Hinblick auf das Gender-Thema ist z.B. folgender Befund: 86% der befragten Mädchen glauben, dass ein Computer und Internetzugang zu Hause in Hinblick auf die Schule sehr wichtig bzw. wichtig sind. Diese Überzeugung äußerten jedoch nur 76% der männlichen Befragten (Feierabend et al. 36).

 

Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist ein weiteres Ergebnis der Studie: Jungen spielen in der Zeit von Montag bis Freitag mit 106 Minuten täglich mehr als doppelt so lange Computer-, Konsolen- oder Onlinespiele wie Mädchen (44 Minuten). Die Hitliste der Spiele wird dabei angeführt vom Fußballspiel „FIFA“ (Das ist der Favorit bei 19% der Befragten.), gefolgt vom Ego-Shooter „Call of Duty“ (14%), danach kommt die Spiele-App „Temple Run“ (Feierabend et al. 61). Brutale bzw. besonders gewalthaltige Computer-, Konsolen- und Onlinespiele nutzen Jungen deutlich häufiger als Mädchen. Der Aussage „Spiele selbst solche Spiele“ stimmten 11% der Mädchen und 53% der Jungen zu, dass Freunde solche Spiele spielen würden, gaben 39% der Mädchen und 78% der Jungen an (Feierabend et al. 50). Computer- und Konsolenspiele sind dabei für insgesamt 66% der Jungen (sehr) wichtig, bei den Mädchen gaben dies lediglich 25% an (Feierabend et al.14).

Es gibt außerdem deutliche Ausstattungsunterschiede: feste Spielkonsolen haben 35% der Mädchen und 56% der Jungen (Feierabend et al. 7). Jungen geben darüber hinaus insgesamt viermal so viel Geld für Computerspiele aus wie Mädchen, diese kaufen dafür mehr Bücher und Zeitschriften (Feierabend et al. 15). Mädchen lesen Bücher im Allgemeinen auch deutlich häufiger als Jungen (Feierabend et al.19 f.).

In Hinblick auf die non-medialen Freizeitaktivitäten wurden ebenfalls deutliche Geschlechterdifferenzen gefunden. So gaben z.B. 20% der Mädchen an in ihrer Freizeit zu malen bzw. zu basteln, aber nur 8% der Jungen. Eine Leibücherei bzw. Bibliothek nutzen 4% der Mädchen und 2% der Jungen. Sport treiben nach eigenen Angaben 68% der befragten Mädchen und 77% der Jungen.

Deutliche Geschlechtsunterschiede wurden auch für die Art der Internetnutzung gefunden: 53% der Mädchen nutzen dieses um zu kommunizieren, aber nur 39% der Jungen. Die Jungen spielen dafür sehr viel häufiger als die Mädchen, wenn sie im Netz sind (Feierabend et al. 31) und laden auch deutlich häufiger Videos herunter als die Mädchen (64% vs. 44%; Feierabend et al. 33).

 

Schlussfolgerungen

Bei der Bullying-Prävention bzw. -Intervention im Kontext Schule sollte besonders auch in Hinblick auf das Phänomen Cyberbullying mitberücksichtigt werden, dass Jungen häufiger zum Bullying-Täter werden als Mädchen und Mädchen häufiger Cyberbullying-Opfer sind als Jungen. In Bayern gibt es speziell ausgebildete Mobbing-Experten bzw. Cyberbullying-Experten, die über die Staatlichen Schulberatungsstellen kontaktiert und angefordert werden können.

Die von Pfeiffer et al. gefundenen Korrelationen bei den Jungen zwischen wachsender Dauer des Medienkonsums und absinkenden Schulleistungen dürfen nicht im Sinne einer Kausalkette interpretiert werden. Zum einen kann es kausale Wirkungen in beide Richtungen geben (über die aufgrund der festgestellten Korrelationen keine Aussagen getroffen werden können): höherer Medienkonsum der Jungen kann absinkende Schulleistungen bedingen ebenso können schlechtere Schulleistungen  einen größeren Medienkonsum nach sich ziehen und es wird Wechselwirkungsprozesse zwischen beiden Phänomenen geben. Zum anderen sollten nicht nur (mono-) kausale Erklärungsmodelle, sondern  zirkuläre  Modelle herangezogen werden, wenn Lehrkräfte wahrnehmen, dass ein (männliches) Kind bzw. Jugendlicher auffällig viel Zeit mit digitalen Medien verbringt. In diesen Modellen müssen auch psychodynamische Prozesse berücksichtigt werden (siehe dazu auch die dargestellten Befunde  hier, insbesondere auch hier.) An dieser Stelle seien dazu nur einige Stichworte genannt: kritisches Lebensereignis, Überforderung, Selbstkonzept eigener Fähigkeiten, Selbstwirksamkeit, Attributionsstil, soziale Entwicklung, Interessenentwicklung, usw. Berücksichtigt werden sollten dabei unbedingt auch die von Pfeiffer et al. genannten moderierenden Variablen zum Thema „Medienkonsum –Schulleistung“, wie ethnische Zugehörigkeit, Bildungshintergrund und Erziehungsstil der Eltern sowie das Familienklima.

Die Ergebnisse der JIM-Studie legen den Schluss nahe, dass der Medienumgang von Jungen im Vergleich zu Mädchen häufiger problematisch ist. Dies muss bei der Medienerziehung berücksichtigt werden. 

Auch Befunde aus den Längsschnittstudien zum TV-Konsum legen nahe, dass bei allen Lernenden und gerade bei den männlichen darauf hinzuwirken ist, dass dieser nach Art und Umfang gemäß den Empfehlungen von Medienpädagogen altersentsprechend gestaltet wird und auch alternative Formen der Freizeitgestaltung angeboten und trainiert werden.

Vermutet werden kann, dass die Zusammenhänge zwischen Art und Dauer des TV-Konsums von Heranwachsenden und verschiedenen psychosozialen Auffälligkeiten, die sie zeigen – wie ADHS, Aggressivität, Negativer Emotionalität, Antisozialen Persönlichkeitsstörungen – auch bei der Nutzung anderer elektronischer Medien vorhanden sind. Das gleiche kann vermutet werden, in Hinblick auf die Korrelationen zwischen (frühem) TV-Konsum und geringeren Ausprägungen bei den (späteren) Rechen-, Sprach- und Lesekompetenzen der Kinder. Die Korrelationen und  Wechselwirkungsprozesse sind vermutlich in Hinblick auf die Nutzung neuer elektronischer Medien noch stärker als beim klassischen TV-Konsum.

Vermutet wird außerdem, dass bei bildungsfernen Jugendlichen die Medienkompetenz besonders gering ist. Gleichzeitig wird der Verdacht formuliert, dass medienpädagogische Maßnahmen gerade diese Lernenden nicht erreichen (siehe z.B. Silbereisen & Weichold, in Schneider & Lindenberger, 251). Diese Schülerinnen und besonders die Schüler sind also besonders gefährdet und sollten bei medienpädagogischen Maßnahmen entsprechend berücksichtigt werden.

 

Bei jedem einzelnen Lernenden wird es für den Medienkonsum individuell unterschiedlich auslösende und aufrechterhaltende Faktoren geben, die berücksichtigt werden sollten, wenn Lehrkräfte im Rahmen der schulischen Möglichkeiten präventiv bzw. korrektiv wirksam sein wollen. Auch die Arbeit mit den Eltern spielt dabei eine wichtige Rolle (siehe auch unter „Handlungswissen/Pädagogisch/Elternarbeit“). Wichtig ist es – gerade bei männlichen Lernenden – frühzeitig tätig zu werden, wenn deren Dauer und Art des Medienkonsums auffällig ist und ihre physische und psychische Entwicklung gefährdet. Lernende aus Risikogruppen (siehe oben z.B. die Aussagen zu „moderierenden Variablen“, „Psychodynamischen Prozessen“) sollten dabei besonders berücksichtigt werden.

Nur gesunde Kinder und Jugendliche können ihr Potential optimal entfalten und schulische Leistungen erbringen, die diesem entsprechen. Gerade die Jungen sind gefährdet, aufgrund ihres Mediennutzungsverhaltens Bildungsziele nicht zu erreichen.

 

 

Literatur

  • Christakis, D.A., Zimmerman, F.J., DiGiuseppe, D.L. & McCarty, C.A. (2004) Early television exposure and subsequent attentional problems in children. Pediatrics, 113(4), 708-713
  • Neuber, V., Künsting, J. & Phieler, D. (2014) Cyberbullying unter Schülerinnen und Schülern. Zusammenhänge mit traditionellem Bullying und Persönlichkeitseigenschaften. In: Psychologie in Erziehung und Unterricht, 2/2014. S. 81 – 95
  • Feierabend, S., Karg, U. & Rathgeb, Th. (2013) JIM-Studie 2013 – Jugend, Information, (Multi-) Media. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12 bis 19jährige. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest
  • Mora-Merchán, J.A., Del Rey, R. & Jäger, T. (2010). Cyberbullying. Review of an emergent issue. In: J.A. Mora-Merchán & T. Jäger (Ed.), Cyberbullying. A cross-national comparison (pp.271-282). Landau: Verlag Empirische Pädagogik.
  • Pfeiffer, Ch., Mößle, Th., Kleimann, M. & Rehbein, F. (2007) Die PISA-Verlierer – Opfer ihres Medienkonsums. Eine Analyse auf der Basis verschiedener empirischer Untersuchungen. Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. (KFN)
  • Robertson, L.A., McAnally H. & Hancox, R.J. (2013) Childhood and Adolescent Television Viewing and Antisocial Behavior in Early Adulthood. In: Pediatrics, 131 (3), 439-446
  • Silbereisen, R.K. & Weichold, K. (2012) Jugend (12-19 Jahre). In: Schneider, W. & Lindenberger, U. (Hg.) Entwicklungspsychologie (7., vollständig überarbeitete Auflage). 235ff. Beltz