A. Hereth


anna 1 400Die „Nature or Nurture“- Diskussion betrifft auch das Thema Interessenentwicklung. Es ist besonders relevant, wenn Lehrkräfte sich die Frage stellen, ob unterschiedlich stark ausgeprägte Interessen von Lernenden an einzelnen Unterrichtsfächern und Inhalten erworben oder angeboren sind, und sie bewerten müssen, ob diese Präferenzen als veränderbar oder eher unveränderbar einzuschätzen sind.

Längsschnittstudien zeigen, dass es bereits ab dem 1. Lebensjahr Interessensunterschiede gibt. Kinder wenden z.B. ihre Aufmerksamkeit entweder verstärkt (bestimmten) Menschen zu oder präferieren eher Gegenstände. Im Vorschulalter können bei den Heranwachsenden bereits klar definierte individuelle geschlechtsspezifische Interessen beobachtet werden, die sich in der Grundschulzeit noch verstärkten (vgl. Schneider & Hasselhorn, in: Schneider & Lindenberger, 203). Schneider und Hasselhorn konnten zeigen, dass die soziale Umwelt – frühe Anregungen der Eltern, Unterstützung durch die Eltern – diesen Prozess beeinflusst.

 

Auch die sogenannten „Baby-x-Studien“ (z.B. von Meyer & Sobieszek, 1972) zeigen, dass die Interessenentwicklung mit eine Folge des elterlichen Handelns durch Interaktion, Modell-Lernen usw. ist. Bei diesen Versuchen schrieben Erwachsene häufig Säuglingen geschlechtsstereotypengemäß Eigenschaften zu, passend zu der Geschlechtsbezeichnung, die ihnen von den Versuchsleitern genannt wurde. Sie taten dies auch, wenn das Kind tatsächlich nicht das Geschlecht hatte, das ihnen genannt worden war. „So bezeichneten sie beispielsweise ein Kind, das ablehnend auf einen Kastenteufel reagierte, als ängstlich, wenn sie es für ein Mädchen hielten, und als ärgerlich, wenn sie glaubten, es sei ein Junge. (…) In der Interaktion und in der Spielzeugwahl richteten sich die Erwachsenen (…) nach dem angegebenen Geschlecht und spielten mit Kindern, die sie für Mädchen hielten, fürsorglicher und zugewandter, während als Jungen bezeichnete Kinder mehr körperliche Stimulation erhielten und mehr zu Aktivitäten ermuntert wurden. Die Erwachsenen zeigten also genau das Verhalten, das dem Stereotyp entsprach.“ (Bischof-Köhler, 61) 

 

 Spiro wiederum wies mit seinem Kibbuzexperiment (vgl. Bischof-Köhler, 172 ff.) nach, dass Kinder auch dann geschlechtsspezifische Interessen bei der Spielzeugwahl oder den von ihnen präferierten Spielen entwickeln, wenn sie explizit nichtsexistisch erzogen werden, mit dem Ziel, die Geschlechter einander anzugleichen. Beispielsweise bekamen Jungen und Mädchen das gleiche Spielzeug, entwickelten aber trotzdem ausgeprägte geschlechtstypische Interessen: „Jungen bevorzugten signifikant grobmotorische Aktivitäten und größere Spielsachen, die sich zum Herumfahren eigneten. (…)  Die Mädchen zeigten signifikante Vorlieben für künstlerische Betätigungen mit feinmotorischer Komponente und Fantasiespiel. (…) Die geschlechtstypische Präferenz für das Puppenspiel, wie sie auch für Mädchen anderer Kulturkreise kennzeichnend ist, schlug (…) voll durch. (…) Was das Nachahmungsverhalten der Jungen betraf, so hätte das Übergewicht der weiblichen Modelle eigentlich eine Feminisierung fördern müssen. (…) Zu 48% bestand [das Fantasiespiel der Jungen] darin, wilde Tiere zu imitieren.“ (Bischof-Köhler, 173 f.) Spiro konnte in seinem Versuchssetting keine soziokulturellen Einflüsse von außen finden, welche die geschlechtsspezifischen Differenzen erklären, auch eine Vorbildwirkung des Kibbuz-Kinderhaus-Personals konnte er als Einflussvariable ausschließen.

Gerade wenn (geschlechtsspezifische) Interessenpräferenzen nicht nur erworben werden, sondern vielleicht auch Dispositionen darstellen, sollten Erziehende und Lehrende darauf achten, möglichst genderbewusst zu agieren. Jeder Junge und jedes Mädchen sollte die Chance haben, Interessen möglichst breit gestreut zu entwickeln und zu pflegen. Nur so können frühzeitige Festlegungen vermieden werden, die getroffen werden gemäß traditioneller Geschlechtsrollenstereotype oder auf eingeschränkte Betätigungsfelder hin. Interessen motivieren zum Lernen, sie beeinflussen auch die Wahl von Schularten, Vertiefungsfächern, Wahlkursen, Fachrichtungen oder Berufs- und Studienrichtungen.

 Allerdings ist zu befürchten, dass (frühe) sozio-kulturelle Einflüsse die Wirksamkeit des gendersensiblen Handelns von Lehrkräften beeinträchtigt. Bei den Kindern könnten rollenstereotype Vorstellungen vorhanden sein, die durch frühe Sozialisationserfahrungen entstanden sind. An dieser Stelle sei ein Beispiel genannt: Von einem großen Discounter wurden im Juli 2013 Bilderbücher für Drei- bis Vierjährige  jeweils im Fünferpack mit folgenden Titeln angeboten: Paket 1 „Barbie – Ballett Tänzerin“, „Barbie – Reitlehrerin“, „Barbie – Schauspielerin“, „Barbie – Krankenschwester“, „Barbie – Pop-Sängerin“ und Paket 2 „Bob und die gefährliche Fahrt“, „Bob und die Waldtiere“, „Bob und der wichtige Auftrag“, „Bob und das Geländerennen“, „Bob baut eine neue Stadt“.

Literatur

  • Bischof-Köhler, D. (2006) Von Natur aus anders. Die Psychologie der Geschlechtsunterschiede. Kohlhammer
  • Meyer, J.W. & Sobieszek, B.J. (1972) The effect of a child’s sex on adult interpretations of it’s behavior. Developmental Psychology, 6, 42-48
  • Schneider, W. & Lindenberger, U. (Hg.) (2012) Entwicklungspsychologie. Beltz