A. Hereth, S. Seiler
Die Beurteilung von Geschlechterunterschieden in Hinblick auf die motorische Entwicklung ist schwierig. So sind für die Grundschulzeit zwar einige Geschlechtsunterschiede bei der motorischen Entwicklung augenscheinlich, wie z. B.:
- bessere feinmotorische Entwicklung von Mädchen, wie sich am Beispiel sequenzieller Fingerbewegungen zeigen lässt (vgl. Largo, 2001a). Hinsichtlich dieses Entwicklungsfortschritts in der Feinmotorik ist zu beachten, dass Mädchen mit diesem einen wichtigen Vorteil hinsichtlich der Einschulung und des Beginns des Schriftspracherwerbs haben.
- dass Jungen in allen Altersstufen einen stärkeren Bewegungsdrang aufweisen als Mädchen ( vgl. Largo, S. 372, nach Eaton 2001).
Diese Unterschiede sind durch systematische Forschung jedoch kaum untersucht . Aktuelle, einschlägige Lehrbücher zur Entwicklungspsychologie (z. B. Schneider & Lindenberger; Largo, 1999) geben keine Hinweise auf die oben genannten geschlechtsspezifischen Differenzen.
Insgesamt beschreiben Entwicklungspsychologen, dass die körperliche Entwicklung in der Vorschulzeit „insgesamt durch ein beschleunigtes Muskelwachstum und damit durch eine Zunahme von Kraft und Ausdauer charakterisiert (ist), wobei die Jungen im Vergleich zu den Mädchen insgesamt etwas muskulöser sind und weniger Fett ausbilden. (…) Insgesamt sind Jungen in dieser Entwicklungsphase im Durchschnitt etwas größer als Mädchen und bleiben dies auch noch im Grundschulalter.“ (Schneider & Hasselhorn, in Schneider & Lindenberger, 188)
Ab ihrem 10. Lebensjahr müssen Jungen dann ein kritisches Lebensereignis bewältigen. Sie waren bisher genauso kräfig und groß und einige sogar kräftiger und größer als die gleichaltrigen Mädchen, sind nun aber möglicherweise bis zum 16. oder 18. Lebensjahr zierlicher und kleiner als ihre weiblichen Altersgenossinnen. Hinzu kommt, dass ihnen die Mädchen auch in Hinblick auf die psychosoziale Entwicklung während der Pubertät um etwa 1 ½ bis 2 Jahre voraus sind.
Sportwissenschaftliche Untersuchungen differenzieren stärker als die Entwicklungspsychologie, in der im Wesentlichen der Unterschied zwischen Grob- und Feinmotorik betrachtet wird. Als verschiedene Teilbereiche der motorischen Fähigkeiten lassen sich darüber hinaus beispielsweise Kraft und Ausdauer, Schnelligkeit, Koordination und Beweglichkeit unterscheiden. Metaanalysen fassen zusammen, dass die Ausprägung der motorischen Fähigkeiten im frühen Erwachsenenalter seinen Höhepunkt erreicht (je nach Teilfunktion zwischen etwa dem 15. und 25. Lebensjahr) und danach kontinuierlich wieder abfällt (vgl. Literaturangabe, z. B. Klaus Bös, Differentielle Aspekte der Entwicklung motorischer Fähigkeiten, In: Bauer, Bös, Singer: Motorische Entwicklung, 1995).
Während in der Kindheit nur geringe Geschlechtsunterschiede zu verzeichnen sind, geht die Leistungsschere in etwa mit Beginn der Pubertät auseinander und Jungen entwickeln signifikant bessere Leistungen in Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit und Koordination. Hinsichtlich der Beweglichkeit gibt es keine Differenzen. Die genannten Unterschiede gehen zurück auf biologische wie auch sozialisatorische Faktoren, da der Stellenwert der Bewegung für Mädchen geringer ist als für Jungen. Vor allem bei 15 – 18-jährigen weiblichen Jugendlichen ist eine deutlich ausgeprägte Bewegungsabstinenz zu verzeichnen. Bei entsprechendem Training zeigt sich in Teilbereichen wie z.B. der Ausdauer, dass Frauen fast die gleiche Leistungsfähigkeit erreichen können wie Männer.
Körper-Wachstum:
Reifungsunterschiede zugunsten der Mädchen bestehen von Geburt an. Ihr Reifungsvorsprung beträgt etwa 6 Wochen und er verstärkt sich bis zur Pubertät. Die Wachstumsgeschwindigkeit ist etwa ab dem 8. bis zum 12. Lebensjahr bei den Mädchen schneller, dann werden sie von den Jungen überholt. (Largo et al. 1978, zit. nach Largo Jugendjahre S. 356). Der Wachstums(end)spurt setzt bei Jungen dann etwa 1 ½ Jahre später ein als bei Mädchen. Jungen wachsen dafür im Durchschnitt 2 Jahre länger und zudem schneller, um die Entwicklungsverzögerungen aufzuholen, bis zum 18. im Vergleich zum 16. Lebensjahr bei den Mädchen.
Als Fazit lässt sich festhalten: Jungen weisen in ihrer biologischen Reifung eine Verzögerung auf, entwickeln sich also langsamer, reifen dafür aber länger als Mädchen (R. Largo „Jugendjahre, S. 36).
Literatur
- Baur, J., Bös K. & Singer; R. (Hg.) (1995) Motorische Entwicklung. Ein Handbuch. Verlag Hoffmann Schorndorf
- Eaton, W.O., McKeen, N.A. & Campbell, D.W. (2001) The waxing and waning of movement: Implications for psychological development. In: Developmental Review, 21, 205-223
- Largo, R.H. (1999) Kinderjahre: Die Individualität des Kindes als erzieherische Herausforderung. Piper
- Largo, R.H. et al. (2001b) Neuromotor development 5 to 18 years: Part 2. Associated movements. Developmental Medicine and Child Neurology, 7, 444-453
- Largo, R.; Czernin, M. (2011) Jugendjahre: Kinder durch die Pubertät begleiten. Piper
- Schneider, W. & Lindenberger, U. (Hg.) (2012) Entwicklungspsychologie. Beltz
- Schneider, W. & Hasselhorn, M. (2012) Frühe Kindheit. In: Schneider, W. & Lindenberger, U. (Hg.) (2012) Entwicklungspsychologie. Beltz