A. Hereth

Individualität entwickeln statt Rollenstereotype tradieren bedeutet, Lernende individuell zu fördern, unabhängig vom biologischen Geschlecht oder der individuellen Ausgestaltung des sozialen Geschlechts (= Gender)

 

Auch die PISA-Ergebnisse bestätigen seit vielen Jahren, wie wichtig es ist, als Lehrkraft Genderkompetenz zu besitzen, um Mädchen und Jungen geschlechter- bzw. gendersensibel zu fördern: Signifikante Kompetenzunterschiede zwischen Mädchen und Jungen werden immer wieder in den Bereichen Mathematik und Lesen nachgewiesen. So zeigen z.B. die PISA-Ergebnisse von 2018 wieder, dass die Lesekompetenz der Mädchen in Deutschland deutlich besser ist als die der Jungen. Die Mathematikkompetenz der Jungen dagegen ist etwas besser als die der Mädchen. (PISA 2018, Ländernotiz Deutschland)

Im Kurzreview Bekommen Mädchen tatsächlich bessere Schulnoten als Jungen? (von Clearing House Unterricht) wird auf die Ergebnisse von über 500 Studien aus 100 Jahren zurückgegriffen. Das Ergebnis der Metaanalyse ist: Mädchen erhalten in der Schule durchgehend bessere Noten als Jungen. Die Notenunterschiede zwischen den Geschlechtern sind in den sprachlichen Fächern signifikant größer als bei den Gesamtnoten. In Mathematik sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sehr gering. Bei den Unterschieden handelt es sich um kein neues Phänomen, denn die Differenzen sind seit rund hundert Jahren gleich geblieben.

Aufgrund evidenzbasierten Wissens ist davon auszugehen, dass Kompetenzunterschiede nicht naturgegeben bzw. unveränderlich sind. Jede Lehrkraft hat die Aufgabe, Lernende ihren Anlagen und Möglichkeiten gemäß zu fördern. Lernende sollten - unabhängig von ihrer Geschlechtszugehörigkeit - die Chance haben, Kompetenzen zu erwerben. Um dies zu ermöglichen, sollten Lehrkräfte gendersensibel handeln. Das Portal hat die Zielsetzung, Lehrkräfte zu befähigen, Lernende jenseits stereotyper Geschlechterrollenzuschreibungen zu unterrichten. Die Diskussion, ob Mädchen- oder Jungenförderung wichtiger ist, wird hierbei nicht geführt, denn alle Kinder bzw. Jugendlichen sollen - egal welches Geschlecht sie haben - in der Schule optimale Entwicklungsbedingungen im Rahmen des Möglichen vorfinden.

Gendersensibles unterrichten erfordert Haltung, Wissen und Methodik. Deshalb nehmen die Portalinhalte drei relevante Ebenen in den Blick, die beachtet werden müssen, damit Lehrende im Schulalltag genderkompetent handeln können:

1. Die biografische Ebene

Das heißt, die eigene Genderrolle zu reflektieren und sich auch mit deren Genese auseinanderzusetzen. Dabei sollte in Reflexionsübungen der eigene Lebenslauf in verschiedenen Bereichen differenziert betrachtet werden:

  • Wie habe ich meine Geschlechterrolle als Kind, als Jugendlicher, als junger Erwachsener, als reifer Erwachsener gestaltet / gelebt?
  • Wie tat bzw. tue ich dies in verschiedenen Lebensbereichen (Herkunftsfamilie, Fortpflanzungsfamilie, Partnerschaft, Beruf, Freundeskreis, Freizeit, ...)?
  • Fühle ich mich wohl in meiner individuell gestalteten Geschlechterrolle?
  • Welches Vorbild bin ich in Hinblick auf die Geschlechterrolle für meine Schülerinnen und Schülern (burschikose Frau; Mann, der Gefühle zeigt; Frau, die Mathematik sehr gut beherrscht; Mann, der Französisch unterrichtet; ...) ?

Intensiver als auf dem Portal und mit den Web-based-Trainings (siehe unter Fortbildung), kann dieses Thema bearbeitet werden, in den Gender-Lehrgänge der ALP. Die entsprechenden E-Learning-Kurse und Präsenz-Lehrgänge werden regelmäßig über FIBS angeboten. Arbeitsblätter, mit denen die eigene Genderbiografie reflektiert werden kann, enthalten - neben vielen anderen Informationen und Materialien - z.B. die "Werkmappe Genderkompetenz" (Grünewald-Huber & v. Gunten, 48 ff.) oder die Lehr- und Lernmappe "Mach es gleich!" (Albrecht, C. et al., S. 55 ff.) PDF. Wenn Lehrkräfte ihre Handlungskompetenz erweitern wollen, sollten sie immer ihre Einstellungen reflektieren und nicht nur Wissen und Methodenkompetenz erwerben. Der stärkste Prädiktor, um Schulleistungen von Heranwachsenden vorherzusagen, sind die Erwartungen ihrer Eltern und Lehrkräfte. Deshalb ist es sehr wichtig, die eigenen Genderrolle zu reflektieren, denn diese beeinflusst die Haltung und damit die Einstellungen der Lehrkraft im Schulalltag.

 
2. Die empirische Ebene

Damit Gendersensibilität entstehen kann, sollte das wichtigste empirisch abgesicherte Wissen zum Thema bekannt sein und berücksichtigt werden (siehe unter „Basiswissen“ und „Handlungswissen“). Grundsätzlich gilt, dass in Hinblick auf psychologische Merkmale, die meisten Unterschiede statisch gesehen innerhalb der Geschlechtergruppen größer sind als zwischen den Geschlechtergruppen. Die Verteilungskurven einzelner Merkmale für das weibliche und das männliche Geschlecht überlappen sich meist stark, jedoch nicht vollständig. Es ist deshalb nicht nur so, dass Extremausprägungen damit immer nur bei einem Geschlecht auftreten, die auf den ersten Blick kleinen Verteilungsunterschiede können in Einzelfällen große Effekte haben, auch wenn sich die Kurven stark überlappen. Illustriert sei dies am Beispiel "Eignungstest für das Maschinenbaustudium, der auch das räumliche Vorstellungsvermögen fordert". Frauen würden dabei voraussichtlich etwas schlechter abschneiden als Männer. Die im Mittel erreichten Punktzahlen der Männer und Frauen würden sich erwartungsgemäß zwar nur geringfügig unterscheiden, wenn aber nur das beste Drittel der Getesteten zum Studium zugelassen werden würde, wäre statistisch zu erwarten, dass doppelt so viele Männer wie Frauen einen Studienplatz bekämen (Bischof-Köhler, 38).

 

Räumliches Vorstellungsvermögen / Geschlechterverteilung: PDF

 
3. Die Unterrichtsebene

Eine Unterrichtsdidaktik, die für sich in Anspruch nehmen kann, geschlechtergerecht zu sein, gibt es nicht. Die individuellen Differenzen innerhalb der Geschlechtergruppen sind groß, "das Mädchen" bzw. "den Jungen" in einer prototypischen Form gibt es (glücklicherweise) nicht. Gleichwohl können - aufgrund der aktuellen Forschungslage - Empfehlungen ausgesprochen und Thesen formuliert werden. Diese gilt es zu reflektieren, zu bewerten und zu diskutieren, auch auf Grundlage der eigenen Unterrichtserfahrungen. Dann kann Schule bzw. Unterricht so gestaltet werden, dass sich aus Gendersensibilität immer mehr Gerechtigkeit entwickelt. Um das zu erreichen, müssen die schulorganisatorischen Bedingungen (siehe unter "Unterricht/Koedukativ", "Unterricht/Monoedukativ" sowie (fachspezifische) Unterrichtsmethoden und -inhalte. (siehe unter „Unterricht/Unterrichtsgestaltung", "Unterricht/Unterrichtsbeispiele") in den Blick genommen werden.

 

Vortrag

Hier können Sie einen einführenden Vortrag von Prof. Dr. Kerstin Höner hören zum Themengebiet "Geschlechterstereotype und geschlechterspezifische Sozialisation" (2020)

 

 

 

Weitere Vorträge
Fortbildungen

Auf diesem Portal der Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung finden Sie Informationen zum Thema „Gendersensibel lehren und lernen“. Darüber hinaus können bayerische Lehrkräfte Fortbildungszertifikate - ein „Basiszertifikat“ bzw. ein „Expertenzertifikat“ - erwerben und sich in einer Projektgruppe engagieren (siehe unter „Fortbildung“). Wenn Sie  z.B. im Rahmen einer Schulinternen Lehrerfortbildung oder einer Fachsitzung ihr Gender-Wissen weitergeben möchten, können Sie - neben allen anderen Portalinhalten (z.B. den Thesen zum geschlechtersensiblen Unterrichten, siehe unter Unterricht/Unterrichtsgestaltung/Thesen) - folgende Präsentationen verwenden:

  • Genderbewusst unterrichten - Forschungsstand und Umsetzung (von Prof. Dr. H. Macha, hier)
  • Gendersensible Förderung von Mädchen und Buben in Monoedukativen Schulen (von Prof. Dr. H. Macha, hier)
  • Besonders Begabte gendersensibel fördern (von Prof. Dr. H. Macha, hier)
  • Individuelle Förderung - Utopie und Wirklichkeit (von Prof. Dr. W. Sacher, hier)
  • Individuelle Diagnose als Voraussetzung individueller Förderung (von Prof. Dr. W. Sacher, hier)
  • Rahmenbedingungen für Förderdiagnose und individuelle Förderung (von Prof. Dr. W. Sacher,hier)
  • Strategien für individuelle Förderung und Förderdiagnose (von Prof. Dr. W. Sacher, hier)
  • Grenzen des Förderns (von Prof. Dr. W. Sacher, hier)

Hinweise zur Strukturierung und Organisation von Fortbildungsveranstaltungen, finden Sie ebenfalls unter Materialien.

 

Geschlecht und Gender

Im Deutschen gibt es kein Wort für das "soziale Geschlecht", deshalb wird in der Literatur das englische Wort "Gender" verwendet, wenn verdeutlicht werden soll, dass sich Aussagen nicht auf das biologische Geschlecht einer Person beziehen, sondern auf die individuelle Ausgestaltung ihrer sozialen Geschlechterrolle. Individuelle Ausgestaltungen der sozialen Rolle gibt es so viele wie es Personen gibt.  Dieses Portal ist kein Portal für Biologen oder Mediziner. Es richtet sich an Pädagogen und Psychologen, die im Handlungsfeld Schule tätig sind. Damit sind in Hinblick auf Schülerinnen und Schüler i.d.R. Aussagen bzgl. ihrer sozialen Rolle relevant und seltener in Bezug auf die Ausprägung ihres biologischen Geschlechts. (hier im Video kurz, knapp und gut verständlich erklärt "Was ist Gender?", siehe auch unter "Gender", "Doing Gender")

Biologisch gesehen gibt es nur ein Geschlecht und jede Person ist aufgrund der individuellen Ausprägung von fünf biologischer Faktoren, die das Geschlecht bestimmen, auf einem Kontinuum einzuordnen. Die meisten Menschen können biologisch deutlichen dem männlichen oder weiblichen Pol des Kontinuums zugeordnet werden. Es gibt aber auch Personen, bei denen z.B. das Chromosomengeschlecht so ist, dass sie biologisch nicht eindeutig als männlich oder weiblich bezeichnet werden können.

Geschlechter- bzw. gendergerechte Sprache

Bisher gibt es im Deutschen keine einheitliche Sprachregelung für eine geschlechter- bzw. gendergerechte Sprache (siehe z.B. "ÜberzeuGENDERe Sprache. Leitfaden für eine geschlechtersensible und inklusive Sprache" PDF). Deshalb wurde den Autorinnen und Autoren des Portals die Entscheidung überlassen, auf welche Weise sie verdeutlichen wollen bzw. ob sie durch spezielle Formulierungen dokumentieren möchten, dass sie in ihren Texten beide Geschlechter im Blick haben. Sie finden deshalb unterschiedliche - zur Zeit gängige - Lösungen in den verschiedenen Portalinhalten.

 

Literatur

Bischof-Köhler, D. (2006, 3. Aufl.) Von Natur aus anders. Die Psychologie der Geschlechtsunterschiede. Kohlhammer

Clearing House Unterricht - Technische Universität München (TUM)

Gäckle, A. (2014) ÜberzeuGENDERe Sprache. Leitfaden für eine geschlechtersensible und inklusive Sprache. Universität zu Köln

Grünewald-Huber, E. & von Gunten, A. (2009) Werkmappe Genderkompetenz. Materialien für geschlechtergerechtes Unterrichten. verlag pestalozzianum

Programme for International Student Assessment (= PISA) - Internationale Schulleistungsstudie der OECD