C. Günther, A. Jahreiß

Klimaflüchtlinge: Kinder mit Zukunftschancen
Ein komplexes Thema spielerisch und gendersensibel durchdringen 

 

Chancengleichheit und Hinweise auf verschiedenartige individuelle Bedürfnisse sind wesentliche Aspekte gendersensiblen Lehrens und Lernens. Im Heimat- und Sachunterricht der Grundschule kann dies mit Sachthemen und gesellschaftswissenschaftlichen Fragestellungen gekoppelt werden, wie das vorgestellte Unterrichtsbeispiel aus dem Bereich „Flucht und Migration“ aufzeigen möchte.

 

Begriffsklärungen

Flucht, Vertreibung, Migration, Wanderung, Mobilität werden im Alltag häufig unreflektiert synonym und ohne Trennschärfe verwendet. Der Begriff „Klimaflüchtling“ taucht in diesem Zusammenhang eher selten auf.

Aus der Sicht des Faches Geographie wird nach Hoffmann (2008, S. 11) zwischen sozialer (vertikal oder horizontal) und räumlicher Mobilität unterschieden. Richtet sich der Blick auf den Raum, grenzt man die „Zirkulation“ (Pendler, Reiseverkehr) von der „Migration“, die permanent oder temporär sein kann, ab. Es gibt zwei Migrationsarten: Die „freiwillige Migration“ umfasst die internationale Arbeitskräftemigration oder verschiedene Formen der Binnenwanderung (Stadt-Land-Wanderung, Stadt-Stadt-Wanderung, Land-Stadt-Wanderung, Land-Land-Wanderung). Bei „Flucht“, welche entweder innerhalb eines Landes oder grenzüberschreitend stattfinden kann, differenziert man nach den Ursachen. In diesem Kontext wird ein Flüchtling bezeichnet als „eine Person, die durch politische Zwangsmaßnahmen, Kriege oder existenzgefährdende Notlagen veranlasst wurde, ihre Heimat vorübergehend oder auf Dauer zu verlassen“ (Hoffmann 2008, S. 10).

Für Klimaflüchtlinge wird ihre Heimat zum Risikogebiet. Die Regionen sind für Auswirkungen von Klimaveränderungen bzw. für extreme Wetterereignisse und deren Folgen besonders anfällig. Sie sind beispielsweise gekennzeichnet durch Überschwemmungen, Überflutungen, Sturmfluten, Dürren, Erosion, Auftauen des Permafrostbodens oder Abschmelzen der Gletscher (vgl. dazu Müller u.a. 2012).

Das in der Wissenschaft kontrovers diskutierte Push- und Pull-Faktoren-Modell, welches die Intentionen von Migrationsprozessen analysiert, liefert auch weiterhin ein „erklärungsfähiges Grundmuster“ (Nuscheler 2004, S. 102). Schubfaktoren können beispielsweise Armut, religiöse und/oder politische Verfolgung, wirtschaftliche Motive, Krieg, (Natur-)Katastrophenereignisse oder Landknappheit sein. Sogfaktoren umfassen zum Beispiel Sicherheit und Unterstützung, religiöse und/oder politische Toleranz und Akzeptanz, bessere infrastrukturelle Lebensbedingungen (Bildungsmöglichkeiten, humanitäre Versorgung, Arbeitsplätze ...).

 

Flucht und Migration – ein ernstes Thema mit Spielformen gendersensibel aufbereiten

Spielformen sind geeignete Methoden zur unterrichtlichen Begegnung mit der Thematik Flucht und Migration. Sie bieten die Möglichkeit der Perspektivenübernahme und des spielerischen Durchdenkens von komplexen Sachverhalten, auch vor dem Hintergrund individueller Bedürfnisse und Interessen. Durch szenische Spiele, durch Simulationsspiele sowie durch Interaktionsspiele tauchen Kinder und Jugendliche – unabhängig von ihrem Geschlecht – in verschiedene Rollen, Erlebnisse und Ereignisse ein, gewinnen und durchdringen dabei spielerisch das notwendige Sachwissen und ordnen es in entsprechende Mensch-Umwelt-Beziehungsgefüge. Spielformen fördern folglich Denkleistungen und fordern zu differenzierten, geschlechtsneutralen Betrachtungsweisen, zu sachgerechter Kommunikation und adäquater Präsentation heraus. Zum Thema „Flucht und Migration“ existieren bereits einige Angebote, wie z.B. das Brett- und Würfelspiel „Auf der Flucht“ (www.kindernothilfe.de) oder das Stationen-Spiel „Auf der Flucht“ (www.sternsinger.de), die im Unterricht eingesetzt werden können.

 

Lehrplanbezug des Unterrichtsbeispiels

Im bayerischen LehrplanPlus HSU wird für Jahrgangsstufe 3/4 im Lernbereich 5 Raum und Mobilität im Kapitel 5.3 Mobilität im Raum u.a. folgende Kompetenzerwartung (LehrplanPlus Grundschule 2014, S. 201) formuliert:

Die Schülerinnen und Schüler

  • unterscheiden Gründe und Ursachen für Mobilität im Alltag und in besonderen Situationen (Ferienreisen, Flucht).

Neben inhaltsbezogenen Kompetenzen werden im Unterrichtsbeispiel die prozessbezogenen Kompetenzen Erkennen und verstehen, Eigenständig und mit anderen zusammenarbeiten, Kommunizieren und präsentieren, Reflektieren und bewerten berücksichtigt (LehrplanPlus Grundschule 2014, S. 61).

 

Unterrichtsbeispiel zum Thema „Klimaflüchtlinge: Kinder mit Zukunftschancen“

Im Unterrichtsbeispiel wird die Thematik exemplarisch am Beispiel des Dorfes Sam Dzong,

eine Siedlung, welche im Himalaya auf 4000 m Höhe in Nepal liegt, aufgegriffen. Aufgrund der Folgen der globalen Erderwärmung verloren die rund 85 Bewohnerinnen und Bewohner fremdverschuldet ihre Lebensgrundlage. Wasserknappheit und Erosionserscheinungen führten dazu, dass eine agrarische Nutzung in dieser Region nicht mehr möglich war.

Die kostenlose Zuweisung von Land durch die Regierung des Königreiches Mustang war die Voraussetzung für eine Umsiedlung in das einige Stunden Fußweg entfernt liegende neu erbaute Dorf Namashung. 2015 zogen die Menschen in ihre neuen Häuser und ein Jahr später konnten sie ihre erste Ernte einbringen. Realisiert wurde dieses Vorhaben durch Spendengelder sowie das große Engagement der Bewohnerinnen und Bewohner. Gerade für die Kinder eröffneten sich aus den verbesserten Lebensbedingungen, unabhängig von ihrem Geschlecht, Bildungs- und Ausbildungschancen (vgl. dazu Kienle & Bauer 2017).

Der Einstieg in das Thema erfolgt mittels stummer Bildimpulse, welche Eindrücke über Landschaft, Lebensweise und Kultur der großen und kleinen Einwohnerinnen und Einwohner liefern.

Abbildung 1 PDF veranschaulicht die Grundstruktur des Unterrichtsverlaufs mit seinen beiden, sich ergänzenden zentralen Methoden „Gruppenpuzzle / StEx-Methode“ und „Rollenspiel“.

Als Material steht den Schülerinnen und Schülern neben einem Globus und einer Weltkarte der Artikel „Die Klimaflüchtlinge. Ein Dorf zieht um“ in der Zeitschrift GEOlino extra, Nr. 61 zur Verfügung. Dieser enthält kindgerecht formulierte Sachinformationen zu der Problematik.

Die Schülerinnen und Schüler werden in Kleingruppen eingeteilt und lösen mit Hilfe der Spielanleitung (M 1) in ihrer Stammgruppe die Arbeitsaufträge (M 2-5) zu den einzelnen Rollen. Um ihre Ergebnisse zu vergleichen und weitere Impulse zu erhalten, treffen sich dann die Kinder der jeweiligen Rolle in ihrer Expertengruppe. Nun können die gewonnenen Erkenntnisse in einem Rollenspiel in den Stammgruppen schauspielerisch umgesetzt und präsentiert werden.

Die Spielsituation stellt dar, wie eine Gesandtschaft des Dorfes – bestehend aus einer Bewohnerin und einem Bewohner sowie einem buddhistischen Mönch – den König von Mustang um Neuland bittet.

Mittels eines Rückmeldebogens (M 6) bewerten die Kinder kriteriengeleitet die Rollenspiele der jeweiligen Gruppen.

Den Abschluss der Unterrichtseinheit bildet das Schreiben einer Reportage zum Thema „Geflüchtete Kinder – gleiche Chance für Jungen und Mädchen?“ (M 7), über deren Ergebnisse sich die Kinder im Plenum austauschen.

Über die mit entsprechenden Operatoren formulierten Arbeitsaufträge (vgl. Materialienpaket PDF) werden die Schülerinnen und Schüler zum komplexen Denken sowie zu sachgerechter Kommunikation, Präsentation und Reflexion herausgefordert. Sie lassen Raum für Überlegungen zu verschiedenartigen Interessen, Bedürfnissen und Wahrnehmungen sowie für ihre Positionierung im Rollenspiel bzw. in der Reportage.

 

Kompetenzorientierte Förderung im gendersensiblen Unterrichtsarrangement

Vor dem Hintergrund einer kompetenzorientierten Förderung sind diese Arbeitsaufträge auf unterschiedlichen Anforderungsniveaus verfasst, so dass sie von den Schülerinnen und Schülern – je nach ihrem Leistungspotenzial – bewerkstelligt werden können.

Abbildung 2 PDF zeigt anhand von Beispielen aus dem Themenbereich „Flucht und Migration“, wie in der Primarstufe Operatoren den verschiedenen Anforderungsbereichen zugeordnet werden können.

Während die Auftragskarten M 2-5 in den Anforderungsbereichen Reproduktion und/oder Reorganisation angesiedelt sind, weist die Auftragskarte M 7 ein wesentlich höheres Niveau im Bereich Reflexion und Problemlösung auf. Die Bearbeitung in Einzelarbeit erlaubt es der Lehrkraft, das individuelle Begabungspotenzial (z.B. Fähigkeit zum globalen, logischen, vernetzten, prognostischen oder kreativen Denken) zu erfassen und mittels Rückmeldung zu stärken.

Das gendersensibel konzipierte Unterrichtsarrangement bietet den Kindern die Möglichkeit, in eine andere (Geschlechter)-Rolle zu schlüpfen und somit eine Vielzahl unterschiedlicher Interessen und Bedürfnisse „ins Spiel zu bringen“. Die provokativ gestellte und im Rahmen einer Reportage zu beantwortende Frage, ob sich für die Mädchen und Jungen nach der Umsiedlung des Dorfes ähnliche Perspektiven ergeben (vgl. M 7), bietet eine Diskussionsgrundlage über die generelle Bildungs- und damit Chancengleichheit für beide Geschlechter.

 

Ausblick

Der LehrplanPLUS im Fach Deutsch als Zweitsprache (LehrplanPlus Grundschule 2014, S. 131-149) regt beispielsweise dazu an, kleine Texte zur Veröffentlichung zu verfassen und geeignete Medien (z.B. Wortkarten, Bilder, Gegenstände) zur Illustration der Präsentation zu nutzen. Das Thema „Flucht und Migration“ kann in diesem Zusammenhang aufgegriffen und vertieft werden, indem Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund ihr Heimatland sowie kulturelle und nationale Besonderheiten und Werte mittels genannter Medien und Texte vorstellen, auf einer liegenden Wand-Weltkarte verorten und somit ein Bodenbild entstehen lassen. Dieses kann dann den Mitschülerinnen und Mitschülern im Rahmen einer kleinen Ausstellung gezeigt werden. Kinder mit Migrationshintergrund stehen als Experten oder Expertinnen und Ansprechpartner oder Ansprechpartnerinnen vor Ort zur Verfügung. Auf diese Weise gelingt es, mehrere, nach Ursachen differenzierte Fluchtformen aufzugreifen und das Thema „Klimaflüchtlinge“ in einen größeren Zusammenhang zu stellen.

 

 

Literatur

  • Bayerisches Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst (Hrsg., 2014): LehrplanPlus Grundschule. Lehrplan für die bayerische Grundschule. München.
  • Hoffmann, Thomas (2008): Flucht und Migration. SII Arbeitsmaterial (= TERRAglobal). München.
  • Jahreiß, Astrid & Carola Günther (2009): Schatztruhe Geographie. Würzburg.
  • Kienle, Dela & Manuel Bauer (2017): Die Klimaflüchtlinge. Ein Dorf zieht um. In: GEOlino extra 61 (2017), S. 72-76.
  • Müller, Bettina u.a. (2012): Klimamigration. Definitionen, Ausmaß und politische Instrumente in der Diskussion (= WorkingPaper 45, BAMF). Berlin.
  • Nuscheler, Franz (2004): Internationale Migration. Wiesbaden.

 

Link

  • Kindernothilfe (2016): Würfelspiel „Auf der Flucht. In: Kindernothilfe (Hrsg., 2016): Syrien: Robinson auf der Flucht (= Kinder, Kinder 28). Duisburg, S. 26-27 und Klappentext.

https://www.kindernothilfe.de/multimedia/KNH_DE/Neue+Webseite/Infothek/Publikationen/Für+Kinder/Kinder_+Kinder_Hefte/Kinder_+Kinder+28+(4+MB)-p-54578.pdf (letzter Aufruf: 11.07.2017)

  • Kindermissionswerk (o. J.): Stationenspiel „Auf der Flucht“ (= Die Sternsinger). Aachen.

https://www.sternsinger.de/fileadmin/bildung/Dokumente/themen/flucht/2014_dks_malawi_erlebnisgeschichtel_auf_der_flucht.pdf (letzter Aufruf: 11.07.2017)

  • UNICEF (Hrsg., 2017): A child is a child: Protecting children on the move from violence, abuse und exploitation. New York.

https://www.unicef.org/publications/index_95956.html (letzter Aufruf: 11.07.2017)