Kreatives Schreiben als Chance geschlechtersensibler Schreiberziehung

 S. Horst

Lehrerinnen und Lehrer benötigen ein Repertoire für gendersensiblen Unterricht. Über die generelle Forderung nach einer genderkompetenten Pädagogik hinaus stellt sich die Frage, wie eine Förderung der Schreibkompetenz und –motivation aussehen könnte, die Geschlechterdifferenzen nicht festigt, sondern individuelle Bedürfnisse aufgreift.

 Die Befunde neuerer psychologischer Studien belegen mit Bischof-Köhler „gerade auch im motivational-emotionalen Bereich […] höhere Explorativität, dominanteres Verhalten und stärkeres Selbstvertrauen bei Jungen, und erhöhte Ängstlichkeit, Neigung zu Gehorsam und größere Nähe im persönlichen Kontakt bei Mädchen.“ (Bischof-Köhler, 2006, S. 32) 

Dem weiblichen Selbstgefühl wird als Stärke größeres Empathievermögen sowie Interesse an persönlichen Beziehungen zugewiesen, während Jungen zugeschrieben wird, angeborenermaßen assertiver, also selbstbehauptender aufzutreten als Mädchen(ebd., S. 345) 

 Folglich bietet es sich an, hinsichtlich des kreativen Potentials von Jungen und Mädchen deren unterschiedliche Interessen, Neigungen und Motivstärken ihres jeweiligen motivational-emotionalen Bereichs zu berücksichtigen:

Laut Bischof-Köhler lieben Jungen riskante Situationen mit Abenteuercharakter und zeigen stärkere Durchsetzungsorientiertheit als Mädchen. Die höhere Toleranz für Abenteuer und Risiko müsste sich dann auch im kreativen Schreibprozess dahingehend äußern, dass Jungen „… eher dazu neigen, unbekannte und riskante, also erregende Situationen und Dinge dann noch faszinierend zu finden und zu erkunden, wenn Mädchen bereits etwas zögern und sich lieber vorsichtig zurückhalten“ (ebd., S. 344)

Da es einfacher ist, mit statt gegen signifikante Geschlechtsunterschiede oder Rollenbilder zu arbeiten, müsste daraus resultierend gefordert werden, dass man Asymmetrien bei der gendertypisch kreativen Ausführung einplant und für eine optimale Lern- und Entwicklungsförderung der Lernenden die gendertypischen Differenzen berücksichtigt, ohne sie zu zementieren und ohne die Vielfalt innerhalb der Geschlechtergruppen zu vernachlässigen.

 

Kreatives Schreiben

Jeder Schreibprozess ist kreativ: Auch bei normgebundenem Schreiben müssen kreative Leistungen vollbracht werden. Das bedeutet letztlich, dass schon die Wahl einer Aufsatzform aus unserem traditionellen Fächerkanon oder das Verfassen einer bestimmten Gattung einen freien Schreibprozess darstellt. Und umgekehrt greifen Schreibende auch bei einer ‚freien’ Aufgabe auf Wissensbestände und produktive Fähigkeiten zurück, die sie im Laufe ihrer Schreibsozialisation erworben haben.

Da es für das Verfassen eines jeden Textes keine eindeutige Lösung gibt, müssen während des Schreibprozesses die verschiedenen Lösungswege auf ihre Eignung bzw. Widersprüchlichkeit hin überprüft werden. Insofern ist das Schreiben eines jeden Textes „kreatives Problemlösen“.

Doch umso weniger der Lösungsweg von vornherein festgelegt ist, umso geringer ist – lernpsychologisch gesprochen - der Anteil reproduktiven, konvergenten Denkens und umso höher der Anteil produktiven, divergenten Denkens.

Gleichzeitig bekommen Schülerinnen und Schüler ohne ein sinnvolles Konzept für intensives Aufsatztraining keine ausreichende Unterstützung, um ihre Schreibfertigkeiten sukzessive zu verbessern. Deshalb ist es notwendig, dass Schreibstrategien eingeübt werden müssen. Auch darf der substantielle Zusammenhang zwischen Schreib- und Lesekompetenz nicht außer Acht gelassen werden.

Vor allem aber muss Schreiben Spaß machen und um die Bereitschaft und Freude am Schreiben zu erhalten - oder auch neu zu wecken - bedarf es offener, kreativer Unterrichtsformen. Unterricht sollte beide Seiten beachten: bewährte Muster der Aufsatzformen üben und zugleich Anlässe für die schreibende Auseinandersetzung mit lebenspraktischen Zwängen und Freiheiten bieten, um Impulse, Zeit und Raum für lebendiges, praxisnahes Schreiben zu bieten.

 

Eine kurze Schule des Sehens PDF

 

Typisch Mädchen? Typisch Junge?

 Auch ohne Angabe der Geschlechtszugehörigkeit lassen sich die im Laufe von über 10 Jahren in der 6. Jahrgangsstufe entstandenen Schreibprodukte – wobei die Bandbreite von fantasievollen Märchen, originellen Berichten, überraschenden Kriminalgeschichten oder nachdenklich machenden Fabeln bis hin zu einem Mythos reicht – oftmals geschlechtsspezifisch zuordnen:

Typisch Mädchen!

Annika: Wenn Träume wahr werden zu Kamel in rhythmischer Baumlandschaft von Paul Klee PDF

Mareike: Tinton, der Unglücksfisch zu Der Goldfisch von Paul Klee PDF

Typisch Junge!

Nils: Das Kamel, das keiner sah zu Kamel in rhythmischer Baumlandschaft von Paul Klee PDF

Simon: Der goldene Finger zu Der Goldfisch von Paul Klee PDF

Nach der Adoleszenzphase

Nach der Adoleszenzphase nivellieren sich die genderbedingten Unterschiede zunehmend mit der individuellen Schreibbiographie. Beide Geschlechter tendieren zu Ironie, Witz und Humor. Dennoch kann bei den männlichen Verfassern die Tendenz beobachtete werden, dass sie gerne ihr theoretisches Wissen unter Beweis stellen.

Der Arbeitsauftrag bestand darin, einen inneren Monolog zu C.D. Friedrichs „Frau vor der untergehenden Sonne“ zu verfassen. Während Thomas die romantische Weltsicht auf übertreibende Art und Weise ironisiert, karikieren Silva und MarlenePDF die Rolle der Frau. Ganz offensichtlich geht es ihnen nicht darum, deutlich zu machen, dass im Rahmen der geistesgeschichtlichen Erneuerungsbewegung der Romantik die Frauenrolle neu definiert wurde, sondern darum, sich selbst von den traditionellen Ehevorstellungen zu emanzipieren.

Andreas und Jakob PDF lassen sich von dem Bild „Zwei Männer“ zu einem einfallsreichen Dialog über die politischen Verhältnisse zu Beginn des 19. Jahrhunderts anregen.

Während die jungen Frauen sehr subjektiv an den Schreibauftrag herangehen, verarbeiten die jungen Männer offensichtlich ihr Faktenwissen aus dem Deutsch- bzw. Geschichtsunterricht

 

Hinweise zur praktischen Umsetzung

  1. Konzeption der Schreibaufgabe PDF

  2. Als Schreibanlass geeignete Bilder PDF

  3. Vom Bild zum Text PDF

  4. Instrumentarium zur Bewertung PDF

  5. Evaluation PDF      

 

Thesen zur weiteren Diskussion

Jungen und Mädchen scheinen die beim freien Schreiben verlangte „stärkere Zielsetzungs- und Entscheidungskompetenz innerhalb des gesamten Schreibprozesses“ (Fix, 2..2, S. 34) unterschiedlich umzusetzen:

 

Innere versus äußere Handlung:

Geschichten mit innerer Handlung über Emotionen und soziale Beziehungen der Protagonisten sind für die Mädchen von vorrangigem Interesse. Die Jungen bevorzugen handlungsstarke, zum Teil kämpferische oder blutrünstige Handlungskonzepte, in denen sie Herausforderungen und Gefahrensituationen meistern, Feinde oder Monster besiegen oder sich selbst in übertreibender Weise als Held gerieren können. Um sich von der manchmal äußerst fantasievollen, zum Teil absurden Handlung zu distanzieren, wird von den Jungen die personale Erzählhaltung gewählt, mit (Sprach-)Witz, Komik, Parodie oder zum Teil bizarrem Humor übertrieben und des Öfteren mittels der Auflösung als Traumgeschichte aus der irrealen „action“ wieder ausgestiegen.

 

Orientierung an Textsortenmuster

Mädchen zeigen die Neigung, wesentlich öfter als Jungen die Wahl des vertrautesten Weges zu treffen oder mit bekannten Textsorten und Schreibmustern zu experimentieren.

Auf sie trifft die Feststellung von Fix/Melenk ganz besonders zu: „Freies Schreiben verlangt zwar eine stärkere Zielsetzungs- und Entscheidungskompetenz innerhalb des gesamten Schreibprozesses – eine Anforderung, die Schüler überfordern kann; es ermöglicht aber zugleich die Wahl des vertrautesten Weges. Somit stellt freies Schreiben zu Beginn möglicherweise ein komplexeres Problem dar als normgebundenes Schreiben, nach der einmal getroffenen Entscheidung über das Textmuster für viele Schüler aber auch einen einfacheren Weg.“(ebd)

 

Faktoren für weibliches Schreiben (beobachtet bei den Zehn- bis Zwölfjährigen):

  • Geschichten mit innerer Handlung: Emotionen, zwischenmenschliche Beziehungen
  • Identitätsorientiertes Schreiben: Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenssituation, Umwelt, gesellschaftlichem Umfeld
  • hohes Interesse an Empathie
  • Neigung zur Orientierung an Textnormen
  • Experimentieren mit Gattungsmustern 

 

Faktoren für männliches Schreiben (beobachtet bei den Zehn- bis Zwölfjährigen):

  • Geschichten mit äußerer Handlung: Bezwingen von Herausforderungen
  • Abtauchen in fremdländische, fantastische Welten
  • Darstellung unwahrscheinlicher Szenarien mit (bizarren) Übertreibungen
  • Verarbeitung der in den Medien aufgenommenen Eindrücke
  • Witz, Parodie, eigenwilliger Humor zur Distanzierung
  • oft als eine Traumgeschichte

Der Anteil gestalterisches vs. informierendes Schreiben kann nicht in dem Sinne zugeschrieben werden, Jungen würden sachliche Textmuster bevorzugen. Keine der beiden Gruppen zeigt eine gendertypische Neigung oder Abneigung zum informierenden, sachlichen Schreiben.

 

 

Literatur:

  • [1] Bischof-Köhler, Doris, Von Natur aus anders. Die Psychologie der Geschlechtsunterschiede. W. Kohlhammer. Stuttgart 32006, S. 23 
  • [2] Ebd. S. 345. Zu Recht weist Bischof-Köhler auf den Einfluss Gleichaltriger hin (S. 349).
  • [3] Ebd. S. 344
  • [4] Fix, Martin/Melenk, Hartmut, Schreiben zu Texten – Schreiben zu Bildimpulsen. Das Ludwigsburger Aufsatzkorpus. Mit 2300 Schülertexten, Befragungsdaten und Bewertungen auf CD-ROM, 2., korr. Aufl., Hohengehren, 2002, S. 37

    [5] Ebd.