A. Hereth, S. Seiler

Wie in der gesamten kindlichen Entwicklung bis zur Pubertät, lässt sich auch für die Sprachentwicklung feststellen, dass Mädchen einen Entwicklungsvorsprung haben. Dieser geht etwa bis zum 3. bis 5. Lebensjahr wieder verloren (Largo, 1993; Grimm, 1995, in: Oerter & Montada, 1995; Grimm, 2003). Zurückzuführen ist dieser relative Entwicklungsrückstand auf Geschlechtsunterschiede in der Hirnreifung.

 

Empirische Befunde:

Statistisch lässt sich dieser relative Rückstand der Jungen in der Entwicklung für unterschiedliche Bereiche der Sprachentwicklung belegen:

  

laura6 400Schlussfolgerungen:

Bei der Interpretation der dargestellten Geschlechtsunterschiede sollte man vorsichtig sein, da das empirische Bild nicht ganz einheitlich ist. So fehlen Hinweise auf Geschlechtsunterschiede in der Sprachentwicklung beispielsweise im aktuellen Beitrag von H. Grimm & S. Weinert für das Lehrbuch der Entwicklungspsychologie (Schneider & Lindenberger, 2012, 433 ff.) ganz, während H. Grimm in einem Vorgängerband solche noch beschrieb (Oerter & Montada, 3. Auflage, 705 ff.).


Auch andere Autoren sprechen von deutlichen Geschlechterunterschieden bei der Sprachentwicklung, die sich bis ins Erwachsenenalter dokumentieren lassen. Vermutet werden kann auch, dass diese Kompetenzunterschiede eine Spätfolge der Entwicklungsunterschiede in den ersten Lebensjahren sein können: Den Jungen wird weniger zugetraut als den Mädchen, sie werden weniger gefordert, haben deshalb weniger Übung, entwickeln Vermeidungsstrategien (siehe unten) usw. Auch diese Faktoren könnten die Geschlechtsunterschiede in Hinblick auf die Sprachkompetenz erklären. Begünstigt werden diese Prozesse durch die Tradierung von Rollenstereotypen wie sie zum Beispiel in folgenden Wendungen formuliert werden: „Jungen tun sich beim Reden schwerer als Mädchen.", „Mädchen lesen lieber als Jungs.", „Ein Mann ein Wort, eine Frau ein Wörterbuch."


Kinder können jedoch Entwicklungsdefizite - selbst wenn eine genetische Disposition für das Entstehen einer Sprachentwicklungsstörung vorliegt - sehr gut kompensieren durch entsprechende Förderung, die so früh und intensiv wie möglich beginnen sollte.

 

Generell gilt, dass sprachliche Fertigkeiten eine Basis- und Kernkompetenz im Entwicklungsverlauf von Kindern und Jugendlichen darstellen z. B. weil mittels sprachlicher Fertigkeiten eigene Bedürfnisse kommuniziert werden, Emotionen im Rahmen der Emotionsregulation besser ausgedrückt werden und ein Bezug zur Peer-Gruppe hergestellt werden kann. Entwicklungsverzögerungen in der Sprachentwicklung sind deshalb auch ein wichtiger Faktor für die Entstehung spezifischer, klinisch relevanter Verhaltensauffälligkeiten.

 

So lässt sich beobachten, dass vor allem Entwicklungsstörungen im rezeptiven Sprachverständnis oftmals zum Aufbau kompensatorischer Verhaltensweisen führen, um eigene Defizite zu kaschieren oder damit einhergehende unangenehme Situationen zu vermeiden. Das können z. B. sein:

Entwicklungsstörungen in der expressiven Sprache wiederum stehen häufig in Zusammenhang mit:

In der multiaxialen Diagnostik psychischer Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 werden Entwicklungsstörungen im sprachlichen Bereich daher unter der Achse II (Umschriebene Entwicklungsstörungen) erhoben.

 

Aus den oben dargestellten Befunden lässt sich ableiten, dass Jungen im Vergleich zu Mädchen eine etwas größere Vulnerabilität für die Entstehung psychischer Störungen aufweisen, die mit Entwicklungsstörungen im sprachlichen Bereich assoziiert sind (z. B. Störungen des Sozialverhaltens, vgl. Abschnitt Klinische Psychologie).

 

Als eine weitere mögliche Konsequenz aus den oben genannten Befunden lassen sich Auswirkungen auf die Selbstregulation von Jungen und Mädchen in der frühen Kindheit vermuten. So stehen Mädchen mit besser entwickelten sprachlichen Fertigkeiten auch besser ausgeprägte expressive Bewältigungsformen zur Verfügung, während Jungen tendenziell vielleicht auch aus diesem Grunde auf eher andere Bewältigungsstrategien zurückgreifen, z. B. aktionale.


Für die Entwicklung des Selbstwertgefühls und v. a. für die Entwicklung eines positiven schulischen Selbstkonzeptes dürfte es weiterhin relevant sein, dass Teilleistungsstörungen im Bereich des Schriftspracherwerbs häufiger bei Jungen als bei Mädchen auftreten. Die Häufigkeitsangaben sind dabei ungenau, diese sind für Jungen allerdings immer insgesamt höher als für Mädchen. Als Grundlage für die Entstehung der Lese-/Rechtschreibstörung werden Defizite in den phonologischen Fertigkeiten angenommen, im weitesten Sinne also des rezeptiven Sprachverständnisses, d.h. bei der Decodierung gehörter Reize. Dies führt im Grundschulalter häufig – komorbid - zur Entwicklung von emotionalen Störungen, Beeinträchtigungen des Selbstwertgefühls und Anpassungsproblemen, später auch zu Sozialverhaltensstörungen (vgl. M. H. Schmidt: Kinder- und Jugendpsychiatrie).

Auch hier lässt sich schlussfolgern, dass Jungen im Vergleich zu Mädchen aufgrund des häufigeren Auftretens von Lese-/Rechtschreibstörungen eine höhere Vulnerabilität aufweisen für die Entwicklung von emotionalen Störungen, Anpassungsproblemen, Beeinträchtigungen des Selbstwertgefühls und Sozialverhaltensstörungen. Vermutet werden kann außerdem ein Zusammenhang zwischen den oben dargestellten Faktoren mit den schlechteren schulischen Leistungen der Jungen im Vergleich zu den Mädchen im Fach Deutsch und den Fremdsprachen. Da Sprachverständnis und –flüssigkeit darüber hinaus eine Kernkompetenz für alle Schulfächer darstellen, sollten Jungen in diesen Kompetenzbereichen bzw. Unterrichtsfächern besonders gefördert werden.

 

Bedenkt man weiterhin, dass der Gebrauch des eigenen Vornamens bzw. der Ichform als Indikator für den Beginn der Ich-Entwicklung angesehen werden kann, weisen die o. g. Befunde auf mögliche Unterschiede in der Ich-Entwicklung zwischen den Geschlechtern hin. Dieser Entwicklungsvorsprung von Mädchen könnte implizieren, dass eine früher beginnende Ich-Entwicklung auch Konsequenzen für die Ausreifung von sozialen Kompetenzen und für die Identitätsentwicklung hat.

 

Literatur