R. Rustemeyer

 Haben Mädchen und Jungen gleiche Chancen im Bildungssystem?

Die Ergebnisse nationaler und internationaler Leistungsvergleichsstudien wie IGLU, TIMMS und PISA zeigen, dass es trotz einer intensiven pädagogisch-psychologischen Geschlechterforschung und vielfältiger Bemühungen, daraus praxisbezogene Schlussfolgerungen abzuleiten, bisher nicht gelungen ist, für Mädchen und Jungen gleiche Bildungschancen zu gewährleisten. Ausgehend von der allgemein akzeptierten Zielvorgabe, eine geschlechtergerechte Schule zu schaffen, die für beide Geschlechter anregend, motivierend und lernförderlich ist, ist damit ein umfassenderer Anspruch formuliert, als „nur“ einseitige Mädchen- oder einseitige Jungenförderung zu betreiben. Ein kurzer Blick zurück zeigt, dass zunächst die Mädchen als sogenannte „Bildungsverlierer“ – vor allem im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich – angesehen wurden, während inzwischen Jungen als die neuen Bildungsverlierer gelten.

 

Wie kommt es zu dieser Einschätzung?

Leah2 200 fertigBereits in der Grundschule können für die Kernbereiche Deutsch und Mathematik unterschiedliche Voraussetzungen in Form von Vorwissen und Interesse bei Mädchen und Jungen festgestellt werden. Jungen zeigen ein größeres Interesse an und höhere Kompetenzen in mathematisch-naturwissenschaftlichen Dingen, Mädchen dagegen haben höhere Kompetenzen und Interessen im sprachlichen Bereich. Dies entspricht der weitverbreiteten Meinung, dass Jungen besser rechnen und Mädchen besser reden können. Bei der Erforschung der Unterschiede zwischen den Geschlechtern in schulischen Leistungen, kognitiven Fähigkeiten und motivationalen Merkmalen zeichnete sich bereits Mitte der 1970er Jahre ab, dass Mädchen im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich leistungsschwächer sind als Jungen und es entwickelte sich eine kontroverse Diskussion darüber, ob möglicherweise Mädchen mathematisch weniger begabt seien als Jungen (Rustemeyer, 2001). Dabei wird häufig als ‚natürlicher Faktor’ das in der Regel besser ausgeprägte räumliche Orientierungsvermögen männlicher Personen ins Feld geführt (Budde, 2009). Auch wenn weiterhin bedeutsame Unterschiede bestehen, verweisen Blossfeld et al. (2009, S. 80) darauf, dass eine Annäherung der Kompetenzen der Mädchen und Jungen in den o.g. Bereichen stattfindet.

Werden die sprachlichen Fertigkeiten betrachtet, zeigt sich ein anderes Bild. Hier sind die Mädchen den Jungen im Mittel häufig überlegen. Mädchen verfügen über bessere Kenntnisse als Jungen, vermutlich weil sie in Bezug auf Lesen im Elternhaus stärker unterstützt und angeregt werden. Sie haben mehr Bücher als Jungen, die Eltern hören ihnen häufiger beim Vorlesen zu und sprechen häufiger mit ihnen über Bücher. Bedeutsame Unterschiede in der Lesekompetenz treten somit bereits bei Grundschülerinnen auf, und die Geschlechterunterschiede verstärken sich noch im Laufe der Schulzeit (Artelt u.a., 2007).

 

Mädchen und mathematisch-naturwissenschaftlich-technischer Bereich (MINT)

Geringere Leistungen und Interessen der Mädchen treten vor allem sogenannten MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) auf. Die Auswirkungen zeigen sich sowohl in der schulischen Fächerwähl als auch im späteren Studium und in der beruflichen Ausbildung und führen zu einer Unterrepräsentanz der Mädchen in diesen Bereichen. Da deutlicher Fachkräftemangel besteht und auch für die Zukunft absehbar ist, werden intensive Anstrengungen unternommen, Mädchen für den MINT-Bereich zu motivieren (Perspektive MINT, 2012). Als mögliche Ursachen für die fehlende Anziehungskraft der entsprechenden MINT-Fächer werden u.a. das niedrigere Selbstkonzept und die geringere Selbstwirksamkeit der Mädchen angesehen, sowie geschlechtsspezifische Einschätzungen und geschlechtsspezifisches Interaktionsverhalten der Lehrpersonen. Vor allem das Selbstkonzept der Schülerinnen (also die Einschätzung eigener Fähigkeiten) wird als eine Schlüsselvariable in Bezug auf Lern- und Leistungsverhalten angesehen. Die Selbsteinschätzung ist verbunden mit bestimmten Ursachenzuschreibungen (Attributionen), Erfolgserwartungen und - zum Teil über Attributionen und Erfolgserwartungen vermittelt - mit den Leistungen. Bereits in der Grundschule schätzen nachweislich Mädchen ihre Fähigkeiten für Mathematik geringer ein als Jungen, auch wenn sich noch keine bedeutsamen Leistungsunterschiede zeigen. Die geringe Fähigkeitseinschätzung der Mädchen verringert sich dann im Laufe der Schulzeit noch weiter (Rustemeyer & Fischer, 2005), wobei ein kontinuierlicher Selbstkonzept- und Interessenverlust in der Sekundarstufe auch bei den Jungen auftritt.

Während die Selbstkonzepte von Schülerinnen nicht so ohne weiteres verändert werden können, bieten die Attributionen einen guten Ansatzpunkt, ungünstige Selbsteinschätzungen der Schülerinnen zu verändern.

 

 

Attributionen

Attributionen sind subjektive Ursachenerklärungen, z. B. von Erfolg und Misserfolg in Mathematikarbeiten. Sie lassen sich danach unterscheiden, ob die Ursache eher als in der Person (internal) oder außerhalb der Person (external) liegend, stabil oder veränderlich (variabel) angesehen wird. Das Vier-Felder Schema der Ursachenzuschreibungen nach Bernhard Weiner verdeutlicht die von Personen am häufigsten verwendeten Ursachenerklärungen für ihre eigenen und die zu beurteilenden Leistungen anderer Personen (Rustemeyer, 2011).

 

 

Lokation der Ursache

Zeitstabilität der Ursache

Internal

External

Stabil

Fähigkeit

Aufgabenschwierigkeit

Variabel

Anstrengung

Zufall (Glück / Pech)

 

Wenn von geschlechtsspezifischen Attributionen gesprochen wird, ist damit gemeint, dass unterschiedliche Ursachenerklärungen für die Leistungen weiblicher und männlicher Personen verwendet werden. Sowohl Lehrkräfte verwenden geschlechtsspezifische Attributionsmuster als auch Schülerinnen und Schüler, wenn sie nämlich ihre eigenen Leistungen einschätzen. Die Forschung zeigt, dass Mädchen vor allem in sogenannten Jungenfächern (wie z. B. Mathematik) dazu neigen, sich Misserfolge selbst zuzuschreiben (mangelnde Fähigkeit), während sie Erfolge stärker auf externale Ursachen (Glück gehabt) oder den internalen Faktor hohe Anstrengung zurückführen. Jungen dagegen haben ein günstigeres Attributionsmuster. Sie schreiben sich Erfolge stärker selbst zu (hohe Fähigkeit), während sie Misserfolge eher external attribuieren (Pech gehabt, Aufgaben waren zu schwer).

Da sich Lehrkräfte gegenüber Lernenden unterschiedlich verhalten, je nachdem, ob sie beispielsweise einen Misserfolg auf mangelnde Anstrengung (du kannst es, wenn du dich nur mehr bemühen würdest) oder mangelnde Fähigkeit (das liegt dir nicht) zurückführen, bietet sich eine Überprüfung und ggf. ein Reattributionstraining an, bei dem Misserfolge bevorzugt auf mangelnde Anstrengung und Erfolge auf eigene Fähigkeiten zurückgeführt werden. So übernehmen die Schülerinnen die Verantwortung für ihre Leistungen und werden bei Misserfolg nicht demotiviert.

Um ein positives Attributionsmuster aufzubauen, können Lehrpersonen folgende, unten aufgeführte Rückmeldungen (verbal oder auch schriftlich) geben. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Rückmeldungen realitätsangemessen sind. Allerdings sollte bei Misserfolg eine Attribution auf mangelnde Fähigkeit vermieden werden, da dies in der Regel zu negativen Reaktionen der Lernenden führt. Eine wiederholte Attribution auf mangelnde Fähigkeit kann zur gelernten Hilflosigkeit führen, die in letzter Konsequenz zu einem „sich Aufgeben“ der Schülerin / des Schülers in dem Fach führt und, wenn gelernte Hilflosigkeit erst einmal eingetreten ist, kaum wieder revidiert werden kann.

 

 

Erfolgsattribution auf eigene Fähigkeit

Du kannst das sehr gut.

Das liegt dir.

Das hätten X und Y auch nicht besser gekonnt.

Da habe ich eine schwierige Aufgabe, willst du das mal versuchen?                 

Du warst schon immer so gut in Mathematik.

Du hast das schnell begriffen.

Du hast beim schriftlichen Multiplizieren den Durchblick.

Du verstehst mathematische Aufgaben gut.

Misserfolgsattribution auf unzureichende Anstrengung

Das musst du dir noch mal anschauen.

Das hast du dir nicht genau genug durchgelesen.

Das hättest du besser vorbereiten müssen.

Da hast du nicht richtig aufgepasst.

Da hast du nicht richtig zugehört.

Wenn du dir das noch mal anschaust, wird es dir schnell klar.

Um diese Aufgabe zu lösen, musst du dir mehr Mühe geben.

Da hast du dich nicht richtig auf die Aufgabe konzentriert.

 

 

Geschlechtsspezifische Interaktionsmuster

In der Literatur wird immer wieder auf unterschiedliche Interaktionsmuster zwischen Schüler/innen und Lehrkräften im Unterricht hingewiesen. Danach werden Jungen im Mathematikunterricht öfter aufgerufen, häufiger getadelt, häufiger wegen mangelnder Disziplin ermahnt, und auch bei Einzel- und Gruppenarbeiten öfter angesprochen. Die höhere Aufmerksamkeit - die Jungen durch die Lehrkräfte erfahren - und ihre stärkere Unterrichtsbeteiligung werden als wichtige Voraussetzungen für die Leistungen im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich gesehen.

Dieses Bild wird von Schirner (2013), die Videoaufnahmen vom Grundschulunterricht in den Fächern Mathematikund Deutsch ausgewertet hat, teilweise bestätigt, teilweise aber auch relativiert. In der Tat erfahren Jungen bereits in der Grundschule mehr Beachtung durch die Lehrkräfte als Mädchen, offenbar weil sie aktiver sind und mehr irrelevante Beiträge zum Unterrichtsgeschehen machen, während Mädchen sich eher nach Aufforderung durch die Lehrkraft beteiligen. Allerdings spielt das Fach und die damit verbundenen Erwartungshaltungen aller Beteiligten eine wichtige Rolle für die Unterrichtsbeteiligung (Schirner, 2013). Im Verständnis einschlägiger Modellvorstellungen hängen geschlechtsspezifische Erwartungen der Lehrkräfte eng mit ihrem Verhalten im Unterricht zusammen, das sich dann wiederum auf die Lernenden auswirkt (Rustemeyer, 2011). Erwartungseffekte sind in der Literatur bekannt als sogenannter Pygmalioneffekt oder auch als sich selbst erfüllende Prophezeiung. Dabei erzeugt die Erwartung ihre eigene Erfüllung, indem Schüler/innen sich dann so verhalten, wie die Lehrkräfte es von ihnen erwarten.

Von Mädchen erwarten Lehrpersonen eher Anpassung, Unauffälligkeit, Fleiß, Disziplin und eine geringere Begabung (insbesondere in sogenannten Jungenfächern). Mädchen gelten bei den Lehrkräften als eher unproblematischer, Jungen als begabter, fauler und disziplinloser.

Nach Schirner (2013) führen ausgeprägte, polarisierende geschlechtsspezifische Erwartungen der Lehrpersonen zu unterschiedlichem Verhalten gegenüber Schülerinnen und Schülern. So wenden sich Lehrkräfte, die über geschlechtsspezifische Erwartungen verfügen (erfasst mit einem Fragebogen), im Mathematikunterricht häufiger an Jungen, die Jungen liefern längere Beiträge und nehmen mehr Zeit am Unterrichtsgespräch ein als die Mädchen.

 

Ein Erfahrungsbericht
 

"Um sich selber ein Bild über die eigene Aufmerksamkeitsverteilung machen zu können, möchte ich jeder Lehrerin und jedem Lehrer ein Experiment vorschlagen, das ich selber in einer Unterrichtsstunde durchgeführt habe und das mir erhellenden Aufschluss gegeben hat. Im Rahmen eines Unterrichtsversuchs in einer 8. Klasse am Gymnasium habe ich durch eine Kollegin mein Aufrufverhalten mit Hilfe einer Strichliste festhalten lassen. Obwohl ich die Stunde ausdrücklich in der Absicht hielt, mich an den Mädchen zu orientieren, ist es mir am Ende der Stunde nicht einmal gelungen, sie ihrem Anteil in der Klasse entsprechend oft aufzurufen. In zweierlei Hinsicht gab mir dieses Ergebnis zu denken. Zunächst waren meine Beobachterin und ich uns sofort nach der Stunde ganz sicher, dass ich fast ausschließlich Mädchen aufgerufen hätte – was nicht stimmte, wie die Strichliste zeigte. Andererseits wusste ich nicht, was ich noch hätte machen können, um mehr auf die Mädchen einzugehen: Meldeten sich auf eine Frage zunächst nur Jungen, so wartete ich ab, ermunterte die Klasse und rief das erste Mädchen, das sich dann meldete, sofort auf. Dieses Verhalten empfand ich selbst während der Stunde als problematisch; ich fühlte mich von den in der ersten Reihe sitzenden Jungen, die mir ständig ihre Finger entgegenstreckten unter Druck gesetzt.

Das Verhalten der Lehrkraft allein kann offensichtlich die "Rollenverteilung" in der Klasse – hier die stilleren Mädchen, dort die lebhafteren Jungen – nicht aufbrechen." (Niederdrenk-Felgner, 1994, S. 57-58).

 

Für das Fach Deutsch lassen sich keine signifikanten Zusammenhänge zwischen geschlechtsspezifischen Lehrererwartungen und dem konkreten Lehrerverhalten im Deutschunterricht nachweisen.

 

Bereits in der Primarstufe haben Jungen eine schlechtere Leseleistung als Mädchen. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Gruppe der schwachen Leser, in der Jungen überrepräsentiert sind. Sehr deutlich wird das unterschiedliche Kompetenzmuster von Mädchen und Jungen in Mathematik und Deutsch (Lesen), wenn die Ergebnisse von PISA herangezogen werden und die Anteile von Jungen und Mädchen in Prozent auf den unteren bzw. oberen Kompetenzstufen in den Basiskompetenzen im internationalen Vergleich verglichen werden.

 

 

Anteil auf den unteren Kompetenzstufen in Prozent

Anteil auf den oberen Kompetenzstufen in Prozent

 

Mädchen

Jungen

Mädchen

Jungen

Mathematik

21.3

21.4

14.2

18.3

Lesen

16.3

28.0

38.6

24.7

Quelle: Zimmer, Burba & Rost, 2004, S. 217

Jungen bilden im Bereich Lesen die stärkste Risikogruppe (28%) während Mädchen prozentual gesehen hier mit 38,6% die stärkste Gruppe bilden. Auf diese nachweislich deutliche geringere Lesekompetenz der Jungen richtet sich die aktuelle Aufmerksamkeit, weil Lesekompetenz eine Schlüsselqualifikation in unserer Gesellschaft ist und eine unabdingbare Voraussetzung für schulischen und beruflichen Erfolg. Die unzureichende Lesekompetenz ist nach Ansicht vieler Autoren ein wichtiger Grund für den erschwerten Zugang zu den weiterführenden Schulen (Bos u.a., 2003). Als Verursachungsfaktor für die geringe Leseleistung der Jungen wird u.a. diskutiert, dass Jungen bereits in der Familie weniger Leseförderung erhalten als Mädchen. Sie zeigen in der Schulzeit ein deutlich geringeres Interesse und weniger Freude am Lesen als Mädchen.

Weiter weisen Blossfeld et al. (2009) nach, dass Jungen für eine Gymnasialempfehlung eine höhere Leseleistung erbringen müssen. Nicht zuletzt deshalb sind nach Ansicht der Autoren Jungen im Gymnasium unterrepräsentiert. In der Mittelschule sind Jungen im Vergleich zu Mädchen dagegen überrepräsentiert. Es sind auch anteilsmäßig mehr Jungen, die keinen Schulabschluss bekommen. Diese Ergebnisse lassen viele befürchten, dass inzwischen Jungen die neuen Verlierer im Bildungssystem sind.

Als eine wichtige Konsequenz dieser Befunde werden in vielen Bundesländern inzwischen im Kindergarten routinemäßig Tests über das Sprachvermögen der Kinder durchgeführt und bei Bedarf entsprechende Sprachfördermaßnahmen durchgeführt. Diese Maßnahmen sind insbesondere auch für Kinder mit Migrationshintergrund sehr wichtig. Für die Schule wird gefordert, die Lesefreude der Kinder nicht nur in der Grundschule sondern auch in der weiterführenden Schule anzuregen und intensiv zu fördern.

 

Prof. Dr. Rustemeyer