A. Hereth

Die Alltagserfahrung, dass es zwischen Mädchen und Jungen in Hinblick auf die Entwicklung sozialer Kompetenzen (Entwicklungs-) Unterschiede gibt, wird durch Forschungsbefunde gestützt.

 Empirische Befunde:

 „Geschlechtsspezifische Unterschiede zeigten sich darin, dass [fünfjährige] Mädchen mehr in kooperativen Spielformen engagiert waren, während sich bei Jungen höhere Werte für das Einzelspiel ergaben. (...) Es liegen Befunde aus Längsschnittstudien vor, in denen die Bedeutung früher kooperativer Fähigkeiten für die Herausbildung sozialer Kompetenz illustriert wurde. So zeigten Kinder, die im Alter von 4 Jahren besonders viele Erfahrungen mit komplexen sozialen Rollenspielen sammeln konnten, später mehr prosoziales Verhalten. Sie wiesen einen hohen Beliebtheitsgrad auf und wurden häufiger als Freunde auserkoren. (...) (Schneider & Hasselhorn, in Schneider & Lindenberger, 207)

  Schlussfolgerungen:

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Auch die Art und Weise, wie frühe Bindungen und Beziehungen zu einem Kind gestaltet werden, beeinflusst dessen Sozialkompetenz. Wenn ein Kind sicher gebunden ist – egal ob an eine männliche oder weibliche Bezugsperson – lernt es sozial kompetent zu handeln. Sozial kompetent ist eine Person dann, wenn sie es mit gesellschaftlich anerkannten Mitteln vermag, eigene Bedürfnisse zu befriedigen, diejenigen anderer wahrzunehmen und Kompromisse einzugehen.

 Die vorgestellten Befunde können dahingehend interpretiert werden, dass Mädchen eher zur sozialen Anpassung und Verleugnung sogenannter negativer Gefühle erzogen werden. Sie erscheinen deshalb häufig als sozial kompetenter als (gleichaltrige) Jungen, die eher ermutigt werden, sog. negative Gefühle auszuleben.

 Die Befunde lassen weiterhin vermuten, dass Jungen vom Kleinkindalter an einen „Trainingsrückstand" in Hinblick auf den Erwerb sozialer Kompetenzen haben können. Wenn Buben im Vergleich zu ihren Altersgenossinnen weniger soziale Fähigkeiten zeigen, muss dies folglich nicht als unveränderlich hingenommen werden. Die sozialen Kompetenzen von Kindern können trainiert werden, indem Erziehende und Lehrende z.B. verstärkt kooperative Spielformen anbieten, Rollenspiele anleiten, betreute Partner- und Gruppenarbeiten initiieren oder Gesprächskreise pflegen, die das aktive Zuhören trainieren (siehe z.B. die Methode „Magic-Circle"). Dies ermöglicht „Trainingsrückstände" zu verringern bzw. aufzuholen.

 Unter (befreundeten) Buben kann es mehr offen ausgetragene Konflikte als unter Mädchen geben. Das bedeutet: Diese Kinder werden von Erwachsenen möglicherweise als anstrengender erlebt. Negative Etikettierungen sollten jedoch unbedingt vermieden werden: Wenn Ansprüche sozial unauffälliger Kinder verletzt werden, reagieren diese häufiger verdeckt aggressiv. Diese Kinder sollten ermutigt bzw. trainiert werden, sich bei Anspruchsverletzungen in angemessener Weise offen mit anderen auseinanderzusetzen. Dies gilt auch für Kinder, die in unangemessener Weise, offen aggressiv reagieren. Das heißt, spezielle Maßnahmen, die das Sozialverhalten trainieren, sollten für beide beschriebenen Gruppen angeboten werden. Sie stellen die Extremausprägungen eines linearen Kontinuums dar, dessen einer Endpunkt folgendermaßen beschrieben werden kann: offen gehandelt wird immer empathisch. Der andere Endpunkt umfasst Folgendes: das Kind handelt immer selbstaktualisierend. Auf dieser Linie können alle Kinder eingeordnet werden. Ein Kind (Mädchen oder Junge), das immer (!) empathisch und zugleich im Einklang mit der eigenen Bedürfnislage – d.h. selbstaktualisierend – agiert, gibt es nicht. Es kann auch keine Kinder geben, denen es immer (!) gelingt eine perfekte Balance zwischen Selbstaktualisierung und Empathie zu finden.

 

Von Sozialkompetenzmaßnahmen werden deshalb alle Kinder profitieren, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß bzw. auf verschiedene Weise. Genderkompetent handelnde Lehrende und Erziehende sollten im Alltag - und speziell bei der Durchführung der genannten Maßnahmen – möglicherweise vorhandene Geschlechtsunterschiede mitberücksichtigen, um geschlechtersensibel bzw. genderkompetent sowohl auf Jungen wie auch auf Mädchen reagieren zu können. Eine große Herausforderung dabei ist, die Kinder gleichzeitig nicht vorschnell zu etikettieren. Denn Erwartungen bestimmen mit, was wir wahrnehmen und wie wir das Beobachtete bewerten.

Deshalb gilt: Erziehende und Lehrende sollten soviel Aufmerksamkeit wie nötig auf Geschlechtsunterschiede richten und so wenig wie möglich.

 

 

Literatur